Beteiligung in Hamburg
Wo in Altona fehlen Fahrradbügel? Wo braucht es speziell solche
für Kinder- und Lastenräder? Darüber konnten Bürger:innen vier
Wochen lang über die Beteiligungsplattform
DIPAS
(Digitales Partizipationssystem) abstimmen.
Auf einer
interaktiven Karte des Hamburger Stadtteils
sieht man auf einen Blick, dass Einträge sich an ein paar
neuralgischen Stellen clustern, während an anderen Orten wohl
kaum Bedarf besteht. Auch die Kommentare dazu sind sachlich: „Im
Büro sind wir acht Leute, die regelmäßig mit dem Rad fahren. Die
Bügel gegenüber bei Netto sind immer schon belegt“, heißt es
dort zur Begründung oder dass Eltern bei den Sporthallen ihre
Kinder mit dem Rad bringen und abholen würden. Möglich ist es
auch, bereits markierte Bereiche zu liken, statt einen eigenen
Beitrag dazu abzusetzen.
Intensiv wurde auch das Zukunftsbild der Hamburger Innenstadt
auf der Plattform diskutiert. Die Teilnehmenden regten
beispielsweise einen gemeinsamen Bringdienst für den
Einzelhandel als Alternative zum Online-Shopping an. Oder
wollten verkehrsberuhigte Flächen zum Kaffeetrinken sowie
Förderung für Initiativen, die Tauschbörsen, Reparatur,
Recycling oder fair gehandelte Waren anbieten. Mehr Kultur und
bezahlbares Wohnen in der Innenstadt sind ebenfalls erwünscht.
DIPAS - digitale Beteiligungsplattform
Hamburg ist ein Stadtstaat: zugleich Bundesland und eine
Gemeinde mit über 100 Stadtteilen, einschließlich der
Nordsee-Insel Neuwerk. Sie hat eine lange Tradition als
Stadtrepublik mit einem selbstbewussten Bürgertum und einer
ziemlich regen Bürgerbeteiligung. Einer Gruppe von Aktivisten
(„Komm in die Gänge“) gelang es sogar, historische Häuser im
Gängeviertel vor dem Abriss zu retten, die Stadt dazu zu
bringen, den Verkauf der Fläche an einen Investor
rückabzuwickeln und die Sanierung der Gebäude zu fördern. Heute
ist das Gängeviertel ein Kunst- und Kulturstandort.
Die Plattform DIPAS, über welche die Hansestadt
Bürgerbeteiligung online und vor Ort organisiert, nutzt
Geodaten, Luftbilder, Baupläne und seit kurzem auch digitale
Zwillinge, um genau lokalisiertes Feedback zu Planungsvorhaben
zu erhalten. Digitale Zwillinge nennt man die 3D-Modelle von
Bauwerken, die idealerweise alle technischen und Betriebsdaten
beinhalten. Entwickelt wurde die Plattform 2016 mit Hilfe der
Hafen City Universität (HCU) bzw. ihres City Science Labs.
Seitdem wurden rund
120 Verfahren mit knapp 50 000 Beiträgen
durchgeführt.
Mobilitätswende mobilisiert am meisten
Auf
DIPAS navigator
werden alle Verfahren tagesaktuell dargestellt. Interessierte
können nachlesen, wo, wann und zu welchen Themen Beteiligung
schon stattgefunden hat, was zum Mitmachen gerade offen ist und
wann Termine vor Ort anstehen. Auch die übergeordneten
Statistiken sind auf der Seite zu finden: Der städtischen
Mobilitätswende geschuldet befassen sich die meisten Verfahren
mit Mobilität und öffentlichem Raum.
„Die Beteiligung ist offen für alle und anonym. Es ist keine
Anmeldung erforderlich“, schildert Claudius Lieven,
DIPAS-Projektleiter bei der Hamburger Behörde für
Stadtentwicklung und Wohnen. Theoretisch könnten auch Leute von
außerhalb schreiben und liken, aber meist seien es die
unmittelbar Betroffenen. „Es sind Menschen, die die
Gegebenheiten vor Ort kennen“, das merke man an den Beiträgen.
Die Verfahren können ganz kleinteilig sein und lediglich einen
Bahnhof-Vorplatz, eine Grünanlage, einen Fuß- oder Radweg
betreffen. Oder aber die ganze Stadt: z.B.
das Lärmkonzept für Hamburg.
Entsprechend breit streut die Beteiligung, erzählt Lieven: 50
Beiträge zur Neugestaltung eines Spielplatzes und mehrere
Tausend beim Leitbild für die Innenstadt.
Kleines Thema – kleines Feedback, großes Thema – großes
Feedback.
Claudius Lieven, DIPAS-Projektleiter bei der Hamburger Behörde
für Stadtentwicklung und Wohnen
Einen Zusammenhang sieht er auch zwischen der Art der
Fragestellung und der Anzahl der Rückmeldungen. Unter einem
„Mobilitätshub“ können sich die meisten nichts vorstellen. Unter
“einer Station mit Carsharing, Rad- und Roller-Verleih, Park-
und Lademöglichkeiten” schon eher. „Da ist es an uns, die
Fachkollegen entsprechend zu beraten.”
Es sei ein selbstsellektives und kein repräsentatives Verfahren,
betont Lieven. Es äußerten sich vor allem diejenigen, die sich
für das Thema erwärmen – „aber zu einer Bürgerversammlung gehen
auch nur die, die sich dafür interessieren“. Cookies und andere
Vorrichtungen sollen verhindern, dass manche sich übermäßig oft
beteiligen, doch mit einigem Aufwand ließen sich die Hürden
umgehen.
Hamburg setzt also voll auf Online-Beteiligung?
Damit kann man doch nie und niemals alle
Bevölkerungsgruppen erreichen.
Sie nennen es “hybrides Verfahren”. Es gibt auch
Infoveranstaltungen vor Ort, aber auch dort hängt
meist nicht nur eine Karte an der Wand.
Touchtable und Datenbrille
Die knapp zwei Millionen Hamburger:innen sind nach DIPAS-Angaben
zu über 90 Prozent Onliner: Technische Hürden sieht Lieven für
Online-Beteiligungen deshalb keine. Diese sind zeit- und
ortsunabhängig, daher können weitere Bevölkerungsgruppen
aktiviert werden. Geplant ist, die Nutzung in mehreren Sprachen
mittels einer automatischen Übersetzungsfunktion zu ermöglichen.
„Wir empfehlen aber in der Regel hybride Verfahren: Manches
vermittelt sich live face-to-face besser“.
Claudius Lieven, DIPAS-Projektleiter bei der Hamburger Behörde
für Stadtentwicklung und Wohnen
Bei einer Kick-off-Veranstaltung im Gemeindezentrum werde der
Plan und die Gestaltungsspielräume vorgestellt und mitgeteilt,
dass es danach die Möglichkeit gibt, innerhalb bestimmter
Fristen online Wünsche zu äußern.
Bei den Vor-Ort-Workshops stellt die Behörde oft digitale Tische
(Touchtables)
auf, um die Änderungen zu veranschaulichen. „Wir haben in
Hamburg sehr viele Karten digitalisiert. So kann man z.B. sehen,
wie das neue siebenstöckige Gebäude die umliegenden niedrigeren
Wohnblocks verschatten wird, den Lärm vom Spielplatz oder die
Windströmungen um die Ecke simulieren. Die Vision des
City Science Labs
ist, künftig die Bürger:innen mit Hilfe von Virtual- bzw.
Augmented Reality den neuen Entwurf schon im Voraus kreieren und
erkunden zu lassen.
“Unsere Stärke liegt in der raumbezogenen Beteiligung, etwa bei
Bauvorhaben, Straßenplanungen und Freiraumgestaltung. Das kommt
daher, dass wir DIPAS in einer Planungsbehörde, ganz nah an
diesen Einsatzgebieten entwickelt haben”, so Lieven. Demnächst
soll aber auch die textbasierte Beteiligung ausgebaut werden:
“Damit beginnen wir im Herbst. Wir wollen erreichen, dass auch
Dokumente gut kollaborativ bearbeitet werden können".
Was geschieht mit den Bürgerwünschen?
Entschieden wird von legitimierten Gremien: Im Bundesland
Hamburg sind das die kommunalen Parlamente der sieben Bezirke.
Beteiligungsformate entbinden die Stadt nicht von ihrer
Planungsverantwortung, sagt auch BBSR-Experte Schüle.
„Wir versprechen nicht, dass alles, was aufgeschrieben wurde,
auch so umgesetzt wird. Es geht um die Aufdeckung von Belangen,
die sonst vielleicht übersehen werden, denn die Bürger wissen am
besten, wie die Situation in ihrer Straße Tag und Nacht, sommers
wie winters ist.“, betont Lieven. Besonders bei Themen, zu denen
man mit Diskussionsbedarf rechnet, lohne es sich, von vornherein
einen Gesprächskanal zu eröffnen und nicht erst, wenn es böse
Briefe hagelt. Wichtig sei aber auch zu begründen, was aufgrund
von Kosten oder gesetzlichen Regelungen nicht realisierbar sei.
Es sind Meinungsbilder. Daraus werden nicht direkt
Entscheidungen abgeleitet.
Claudius Lieven, DIPAS-Projektleiter bei der Hamburger Behörde
für Stadtentwicklung und Wohnen
DIPAS setzte auf Open Source und Nachvollziehbarkeit
„Mittlerweile sind wir bei der Version 3.0. Unser größtes
Problem ist, die ganzen Beiträge zu erfassen und zu verarbeiten.
Deswegen entwickeln wir KI-Instrumente für die Auswertung. Teil
der Philosophie ist: Die Sachen bleiben online.“ Stadtplanung
dauert lange, oft mehr als ein Jahrzehnt. Am Ende tauche die
Frage auf: Warum wurde damals so und nicht anders gemacht? „Wir
sind gebunden an Entscheidungen, die vor Jahren getroffen
wurden“. Deshalb sei es wichtig, die gesamte Diskussion zu
dokumentieren und für immer zugänglich zu machen.
DIPAS ist Open-Source und wurde unter GNU General Public License
(GPL Lizenz) für freie Software im Februar 2021 anderen Städten,
Institutionen und Forschungseinrichtungen zum Installieren und
Mitentwickeln zur Verfügung gestellt. München, Bremen, Kiel,
Leipzig und Haßfurt tun es bereits (Anwender Community) und
tauschen sich aus. „Vorteil einer Plattform ist: Bürger und
Verwaltung gewöhnen sich daran“, so Lieven.
Es brauche eine Serverinfrastruktur, verfügbare Geodaten,
kompetente Administratoren – und wer das nicht hat, könne beim
IT-Dienstleister für die öffentliche Verwaltung Dataport auch
DIPAS as a service kaufen. Das kostet 37 000 Euro jährlich. Ab
sieben Verfahren pro Jahr lohnt sich der Aufwand, meint Lieven:
Das Potenzial habe schon eine mittelgroße Stadt. Für ein
Bruchteil der Kosten ließen sich aber auch
Einzelbeteiligungsverfahren bei Dataport buchen.