Gemeinsam Smart

Wie gestalten Bürger:innen die Städte von morgen?

17.09.2024 / Lesezeit: 40 Minuten

Wien gilt international als vorbildlich. Auszeichnungen und Titel sind für die österreichische Hauptstadt nichts Ungewöhnliches: So wurde Wien nicht nur wiederholt zur lebenswertesten Stadt der Welt erklärt- ab November 2024 trägt die Donaumetropole auch den Titel Europäische Demokratiehauptstadt.

Um Stadtentwicklung und Innovation basierend auf den Bedürfnissen ihrer Bewohner:innen zu realisieren, setzt die Stadt auf Beteiligung und Mitbestimmung. Ein Grund, warum Wien auch als eine der smartesten Städte der Welt gilt. Doch wie smart ist Wien wirklich?

Der Frage, was smart ausmacht und wie die Beteiligung von Bürger:innen im digitalen Zeitalter aussieht, sind die Journalist:innen Naz Kücüktekin und Matilda Jordanova-Duda nachgegangen und haben sich Beispiele in Wien, Ahaus, Hamburg und Taipeh angeschaut. Um ihre Recherche einzuordnen, hat sie Christina Krakovsky dabei kommunikationswissenschaftlich unterstützt.

Naz

Lebenswert - an diesem Wort kommt man als Wienerin kaum vorbei. Auch heuer wurde Wien zum dritten Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt gewählt. So manche/r Wiener:innen würde dazu sagen: Anderswo ist es halt noch schlimmer. Ich gehöre da nicht dazu.

Mein ganzes Leben lang lebe ich schon in Wien, einen anderen Wohnort kann ich mir nur schwer vorstellen. Das liegt auch daran, dass Wien schon viel gut macht - wie etwa die gute öffentliche Anbindung und die vergleichsweise niedrigen Wohnpreise. Was mir bis zu dieser Recherche aber nicht bewusst war: Wien ist auch eine der “smartesten” Städte der Welt.

Matilda, du lebst in Deutschland und schreibst viel über Digitalisierung. Findest du auch, dass Wien “smart” ist?

Matilda

Bei meiner letzten Recherche hatte ich ja mit einigen Wiener:innen zu tun, da ging es am Rande auch um die Smart City-Strategie. Also, Wien hat eine und kam auch in einigen internationalen Smart City-Rankings gut weg. Die Unternehmensberatung Roland Berger stufte Wien gerade wegen der ganzheitlichen Strategie und der standardisierten Fortschrittskontrolle aller Smart City-Projekte hoch ein.

Naz

Ist das bei den Smart City Indizes dann auch wie bei den “lebenswertesten Stadt”- Rankings, gibt es davon mehrere?

Matilda

Tatsächlich gibt es mehrere und sie messen nicht unbedingt dasselbe.

Naz

Smart City Index

Mitglied der UK Royal Academy of Engineering Univ.-Prof. Dr. Chai K Toh publizierte 2022 eine Studie, in der er sechs der größten Indizes zu Smart Cites im Detail untersuchte. Besonderes Augenmerk lag auf den für die Rankings gewählten Kriterien, Indikatoren, verwendeten Methoden und die Platzierungen der Städte in den letzten zehn Jahren. Das Ergebnis lässt sich kurz zusammenfassen: Es gibt keinen allgemeingültigen und weithin akzeptierten Index, der eine global gesehen neutrale, genaue und zuverlässige Einstufung von Städten ermöglicht.

Um dem entgegenzuwirken, wären in erster Linie anerkannte und allgemein gültige Kriterien für die Messung von Smart Cities notwendig, die wissenschaftlich sauber erhoben werden. Chai K Toh bringt einen Vergleich zum Sport: Ähnlich wie bei den Olympischen Spielen, bei denen die Athlet:innen nach bestimmten Regeln und Maßstäben eingestuft werden, müssten auch Städte in Ranglisten aufgenommen werden, die ihren realen Status, ihre Fähigkeiten, Schwächen und Angebote widerspiegeln.

Der Nutzen wäre ungemein größer, denn so könnten die Rankings von Entscheidungsträger:innen verwendet werden, um voneinander zu lernen und Fortschritte zu erzielen. Momentan jedoch beschränkt sich ihre Aussagekraft – ähnlich wie bei vielen derart gelagerten Indizes – auf Prestige- oder Marketingzwecke.s

Hier geht es zu den Websites der 6 untersuchten Indizes: IMD‐SUTD Smart City Index, AT Kearney Global Cities Index, IESE Cities in Motion Index, EasyPark Cities of the Future Index, Mori‐Foundation Global Power City Index und Smart EcoCity Index

Literatur: Toh, Chai Keong. 2022. „Smart City Indexes, Criteria, Indicators and Rankings: An In‐depth Investigation and Analysis“. IET Smart Cities 4 (3): 211–28.
Naz

Smart City ist also international voll der Trend. Aber weder bei der Umsetzung noch bei der Bewertung gibt es eine einheitliche Definition, was genau “smart” ist.

Naz

Wenn wir es aus einer technischen Perspektive anschauen, ist der Wunsch, Städte mit Hilfe von Big Data, Sensorik und Software/KI lebenswerter, umweltfreundlicher und effizienter zu machen: In der „dummen“ Stadt irren Tausende Autofahrer auf der Suche nach einem Parkplatz herum und pusten CO2 und andere Abgase in die Luft. In der „smarten“ werden ihnen freie Plätze per App angezeigt oder es wird gleich empfohlen, einen voraussichtlich überfüllten Stadtteil mit dem Rad oder mit Bus und Bahn anzusteuern.

„In einer Smart City werden Entscheidungen von Bürgern, Unternehmen und Behörden durch Daten unterstützt, die durch kommunale und private Initiativen erhoben, öffentlich bereitgestellt und ausgewertet werden“ , schreibt z.B das „c`t“-Magazin in einem Überblick der 73 deutschen Modell-Gemeinden. Das ist eine Definition, mit der ich mich gut identifizieren kann.

Das Technologiemagazin sieht allerdings das Problem, dass unter dem Label „Smart City“ alles zusammengefasst wird, „was irgendwie mit Computern und Zusammenleben zu tun hat“: die intelligente Ampelsteuerung, das kostenlose WLAN im Zentrum, die App für die Parkplatzsuche, die digitalen Touristeninfos und die Online-Terminvergabe bei den Ämtern. Solche Insellösungen gibt es zwar bereits viele, aber selten ein ineinandergreifendes Konzept.

Und in Wien?

Alle Maßnahmen, die dazu beitragen, Wien smarter zu machen, werden in Wien in der Smart City Rahmenstrategie Wien zusammengefasst. Sie wurde erstmals 2014 verabschiedet und seither kontinuierlich weiterentwickelt. Diese Strategie umfasst derzeit elf Zielbereiche mit insgesamt 74 klar definierten Zielen, die es bis 2050 zu erreichen gilt.

Ein paar nette „Alibi-Maßnahmen” würden dafür nicht reichen, betont Ina Homeier, stellvertretende Abteilungsleiterin der Magistratsabteilung 18 für Stadtentwicklung und Stadtplanung und Projektleiterin der Smart City Wien. Wien will zudem nicht einfach irgendwie "smart" sein, sondern eine Smart Klima City.

Laut Homeier knüpft die Stadt an die vorausschauende und umsichtige Planung an, die ihre Entwicklung seit Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt habe. “Zukunftsweisende Vorhaben wie die Wiener Hochquellenwasserleitung, die großen Wohnbauprogramme der Zwischen- und Nachkriegsjahre sowie die Errichtung der Donauinsel machen Wien heute zur Stadt mit der weltweit höchsten Lebensqualität.”

11 Zielbereiche der Smart Klima City Strategie Wien

Energieversorgung
Mobilität & Verkehr
Gebäude
Wirtschaft & Arbeit
Zero Waste & Kreislaufwirtschaft
Anpassung an den Klimawandel
Stadtökologie, Umwelt & Wasser
Gesundheit & soziale Inklusion
Bildung, Wissenschaft & Forschung
Digitalisierung
Beteiligung, Engagement & Kultur

Lebenswelten der Stadtbewohner:innen

Wien geht dabei einen Schritt weiter als andere Städte. In der Smart Klima City Strategie werden nicht nur reine Energie- und Klimaschutzziele definiert, sondern sämtliche Lebenswelten der Stadtbewohner:innen mitgedacht.

Ina Homeier, Smart Klima City Projektleiterin Stadt Wien

Wiener Smart City Maßnahmen sind vielfältig. Die Bandbreite reicht von den bereits erwähnten Open Government Data (OGD), bis hin zu Klimawandel- Anpassungsmaßnahmen wie den “coolen Zonen” oder Bürger:innenbeteiligungsmöglichkeiten wie den Wiener Klimateams. Vor allem letzteres sei etwas, das Wien einzigartig mache.

Matilda

Das klingt nachhaltig, aber wo nutzt du im Alltag digitale Lösungen?

“Sags Wien”-App

Möchte ich etwa wissen, wo der nächste Trinkbrunnen ist, kann ich das in der Stadt Wien App nachschauen. Die App kann mir auch viele Amtswege ersparen, indem ich direkt dort ein Parkpickerl bestelle oder mein Kind für einen Kindergartenplatz online anmelde. Das ist möglich, weil Wien Zahlen, Daten und Dokumente der Verwaltung öffentlich für jegliche Nutzung zur Verfügung stellt.

Möchte ich der Stadt etwas mitteilen, gibt es hingegen die Sag's Wien-App. Dort kann ich mich zum Beispiel hinwenden, wenn ich kaputte Straßenlaternen und Müll entdecke oder auch Lärmbelästigungen melden. Ich kann in die App Fotos hochladen und genaue Standortangaben hinzufügen.

Ampeln, die mitdenken

Und auch im städtischen Alltag begegne ich smarten Lösungen. Etwa beim Überqueren einer Straße. An ausgewählten Orten gibt es in Wien “Ampeln, die mitdenken”. Die TU Graz hat gemeinsam mit der MA 33 (Wien Leuchtet) dafür ein System entwickelt. Die smarten Ampeln erkennen mittels optischer Detektion sich nähernde Fußgänger:innen. Der Algorithmus der Software berechnet aufgrund der Bewegungsrichtung den vermutlichen weiteren Wegverlauf und leitet diese Daten an die Ampelschaltung weiter. Erreichen die Passant:innen die Ampel, bekommen sie dann gleich Grün. Das System arbeitet offline, die Daten verlassen die Box nicht. Datenschutzbedenken gibt es daher keine.

Aber gut, mit solchen Lösungen steht Wien schließlich nicht allein da.

Matilda

Hast du schon mal etwas von Ahaus gehört? Ich war dort im Mai und fand es ziemlich “science fiction”. Das ist eine mittelgroße deutsche Stadt im Münsterland und quasi ein Reallabor für urbane Digitalisierung. So kämpft sie gegen die Verödung der Innenstadt.

Digitalstadt Ahaus

Ein Discounter, eine Drogerie, ein Supermarkt – und viele leerstehende Räume und blinde Schaufenster. Die Verödung der Innenstädte ist ein gravierendes Problem in Deutschland. Pandemie und Fachkräftemangel haben die Lage noch verschärft. Ahaus war keine Ausnahme. Die Stadt mit 40.000 Einwohnern liegt im äußersten Nordwesten nahe der holländischen Grenze. Man kennt sie vor allem wegen des Atommülllagers und der Proteste gegen die radioaktiven Transporte.

Kaum jemand weiß, dass die Ahauser seit mehr als einem Jahrzehnt in einem Reallabor für urbane Digitalisierung leben, wo man mit dem Smartphone Dinge freischalten, ausleihen und kaufen kann. Die blau-weißen runden Sticker mit QR-Codes kleben an Restauranttischen, Supermarktregalen, Türen, Fahrrädern, Booten, am Kiosk mit Bauernhof-Produkten und auf dem Spieleschrank im Park. Die QR-Codes führen auf die Plattform chayns, Tobits digitales Betriebssystem „für die Vernetzung von allem und allen“.

Ahaus-Bootssteg

„Städte geben viel Geld aus, um den Bürgern zu zeigen, was eine Smart City ist“ , meint Dieter van Acken:

Sie sollten es sie lieber selbst erleben lassen. Die Gesundheit, Verwaltung, Ver- und Entsorgung sowie der Verkehr werden sowieso digitalisiert, sonst kommt die Stadt an ihre Grenzen.

Dieter van Acken, Tobit

Van Acken ist Botschafter des Software-Herstellers Tobit aus Ahaus. Er und seine Botschafter-Kolleg:innen führen jährlich über tausend Besucher aus Kommunen, Verbänden, Wirtschaft und Politik durch die münsterländische Smart City.

Reallabor gegen Verödung

Fast 80 Prozent der dort ansässigen Gastronomen arbeiten nach Tobit-Angaben mit chayns: von der Dönerbude bis zum Schlosshotel. Die Gäste machen fast alles selbst. Sie scannen die QR-Codes, suchen per Klick Getränke und Gerichte aus und bezahlen mit der Chayns-App oder PayPal und Co. Mit derselben App kann man auch 24/7 im Supermarkt oder beim Bauern einkaufen, Räder und Regenschirme ausleihen, tanzen gehen oder einen privaten Kinoabend organisieren.

Tobit betreibt in Ahaus zwei Dutzend solcher „Show-Cases“, um die Möglichkeiten seiner Software zu demonstrieren. Das kleine Kino, das Kaufhaus, die Disko “Next”:

„Die meisten Immobilien standen vorher leer. Für uns sind das Räume, die wir bespielen können. Wir können neue Technik ausprobieren und anderen Städten zugänglich machen“, so van Acken.

Die Stadt im Plattformbetrieb

In Ahaus sei es leichter, etwas im Beta-Betrieb zu testen, da die Kommune und die Bevölkerung mitziehen. Die Alternative sei, Vieles aufzugeben, was die Stadt lebenswert mache, weil es nicht wirtschaftlich zu betreiben ist, sagt der Chef der Ahaus Marketing & Tourismus GmbH, Benedikt Hommöle:

Wir lassen uns auf das Reallabor ein. Wir sind Versuchskaninchen, dafür haben wir hier Dinge, die andere nicht haben.

Benedikt Hommöle, Ahaus Marketing & Tourismus GmbH

In Ahaus haben mir mehrere Leute gesagt, wie bequem das sei: alle kommerziellen Angebote mit einer einzigen Registrierung nutzen zu können. Die staatliche BundID ist dagegen ein Ladenhüter.

In Ahaus gibt es ungefähr so viele chaynsIDs, d.h. Nutzer:innen, die sich mit ihren Kontaktdaten und ihrer Bankverbindung registriert haben, wie Bürger:innen. Das lässt sich unter anderem durch die Pandemie erklären: Die Test- und Impftermine wurden über die Plattform organisiert. Zudem liegt die Stadt nahe der niederländischen Grenze, und bei den Nachbarn ist das digitale Bezahlen sowieso viel selbstverständlicher.

Ahaus: ein Sonderfall

Die münsterländische Smart City ist sicherlich ein Sonderfall. Der Software-Hersteller wurde hier gegründet und hat seinen Sitz in der Stadt. Benedikt Hommöle wird von seinen Kolleg:innen aus anderen Orten sogar oft beneidet: “Tobit macht alles für euch!” “Das stimmt aber nicht”, sagt der Stadtmarketingchef: “Inzwischen trauen wir uns selbst einiges zu und fragen nur nach, wenn wir nicht weiterkommen”.

Stadt und Tobit haben keine offiziell besiegelte PPP (Public-private-Partnership), arbeiten aber seit vielen Jahren gut zusammen und ergänzen sich, wo sie können. Auch bei der Datennutzung gehen sie eine Symbiose ein. Der Software-Hersteller kennt über die chayns beispielsweise den Strom- und Gasverbrauch der eigenen Immobilien und die Belegung der Parkplätze ganz genau. An mehreren Stellen in der Stadt sind zudem Sensoren angebracht, die Daten über das Wetter, den Verkehr und die Besucherströme sammeln.

Die anonymisierten Daten und ein KI-Analysetool helfen dem Unternehmen bei der Bewirtschaftung der Show-Cases und dem Stadtmarketing bei der Planung von Events und dem Beantragen von verkaufsoffenen Sonntagen. Die Verwaltung optimiert auf diese Weise den Winterdienst und kennt genau die Auslastung der städtischen Parkplätze. Letzteres ist aktuell ein heißes Thema. In der Innenstadt sollen zahlreiche Abstellflächen zugunsten eines Grüngürtels wegfallen. Es gibt Bedenken, aber dank Datenerfassung weiß die Kommune, dass der Rest locker reicht. Per App werden demnächst freie Plätze in Echtzeit angezeigt.

Städte und Gemeinden gehen bei digitalen Lösungen oft Partnerschaften mit Unternehmen ein, um ihre fehlende Expertise bzw. Personalkapazitäten auszugleichen. Daraus könnte sich in Sachen Smart City eine für alle Seiten vorteilhafte Situation ergeben: Private Akteure können schneller und flexibler handeln, die Stadt kann Projekte mit weniger eigenen finanziellen Mitteln umsetzen. Für die Unternehmen erschließen sich neue Märkte.

Problematisch wäre es, wenn Firmen technische Lösungen an Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei entwickeln, die Kommunen ihre Verantwortung vollends an die Privaten abgeben bzw. sich blind auf sie verlassen. Kritiker wie der britische Stadtsoziologe Robert Hollands reden dann von einer „corporate smart city“, einer von oben verordneten technokratischen Vision.

Kooperationen mit den großen Internetkonzernen kommen laut Ralf Schüle, der im deutschen Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) über Smart Cities forscht, zumindest in Deutschland nicht mehr so oft vor wie noch vor einigen Jahren.

Die Städte entscheiden sich vermehrt für Open Source und eigene Lösungen. Durch den Austausch untereinander und Sich-Weiterbilden sind sie mittlerweile dazu in der Lage, eigene urbane Datenplattformen zu schaffen.

Ralf Schüle, BBSR

Das “Rote Wien”

Wien legt das Prinzip von smart ein wenig anders um, gilt die Stadt doch seit jeher auch als “rote” Stadt. Da gehört das Soziale dazu. Für ihren kommunalen Wohnbau ist die österreichische Hauptstadt weltbekannt. Jede vierte Wohnung in der Stadt ist eine Gemeindewohnung.

Der “rote” Charakter Wiens kommt auch in der Auffassung einer Smart City vor: “Smart ist für uns jedenfalls, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und den sozialen Aspekt in den Vordergrund zu rücken. Soziale Inklusion ist das Asset, das das Wiener Smart-City-Konzept von vielen anderen Städten, die vorrangig auf technologielastige Strategien setzen, unterscheidet”, betont Ina Homeier.

Ein Weg, wie Wien das derzeit macht, ist auf Bürger:innenbeteiligungen zu setzen:

Es wäre wenig gescheit – also smart – auf das Potenzial und die Kreativität der Bürger:innen zu verzichten.

Ina Homeier, Smart Klima City Projektleiterin Stadt Wien
Matilda

Teilhabe zeichnet nicht nur Wien aus. Das sei sogar ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal der europäischen Smart City überhaupt, hat mir Ralf Schüle vom Deutschen Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) erzählt. Er forscht über digitale Gerechtigkeit. Bürgerbeteiligung ist übrigens auch ein wesentliches Kriterium in der deutschen Smart City Charta.

Naz

Wo beginnt Partizipation?

Eine einheitliche Definition, die den Begriff „Partizipation“ trennscharf abgrenzt, hat sich in den Sozialwissenschaften nicht durchgesetzt. Der praktische Spielraum, ab wann von Beteiligung gesprochen wird, ist recht groß: Für manche gilt bereits die Darstellung von Nutzungshäufigkeit auf Websites (z.B. die Rubrik „am meisten gelesen“), „like-buttons“, etc. als partizipative Einbindung. Andere argumentieren, dass Möglichkeiten für Austausch geboten werden, etwa ein Forum oder Treffen, die dazu einladen, einen Beitrag oder Arbeitsprozesse zu kommentieren, zu besprechen oder zu beraten. Und für wieder andere hängt Partizipation mit einer bereitgestellten Infrastruktur zusammen, durch die Interessierte an einem Projekt mitgestalten können und damit einen höheren Grad an Einfluss ausüben.

Etwas greifbarer wird das Konzept „Partizipation“ in Abgrenzung zu anderen Begriffen, auch wenn die Übergänge fließend sind. So wird Partizipation gern in einem Atemzug mit „Inklusion“ genannt. Allerdings: Personen gelten bereits als inkludiert, wenn sie von anderen adressiert oder durch Vertreter:innen repräsentiert werden. Im Gegensatz dazu partizipiert man erst dann, wenn man sich selbst aktiv bis hin zu kreativ an einem (Teil-)Prozess eines Vorhabens einbringt. Dieser partizipative Prozess kann aber durchaus hierarchisch organisiert sein und nur begrenzt für ein Mitgestalten offenstehen.

Auf der anderen Seite rücken stark partizipative Formate und Projekte näher an das Konzept von „dialogischer Kommunikation“. Grundsätzlich ist der Dialog durch Interaktion und Gegenseitigkeit geprägt, denn mindestens zwei Personen treten miteinander in Kontakt und beziehen sich aufeinander. Soll ein Dialog darüber hinaus gelingen, müssen die Machtverhältnisse der Teilhabenden ausgeglichen werden – eine Notwendigkeit, die wiederum bei partizipativen Projekten nicht zwingend umgesetzt werden muss; aber umgesetzt werden kann.

Ausgewählte Literatur:

Engelke, Katherine M. (2019): Online participatory journalism: A systematic literature review. In: Media and Communication 7, H. 4, S. 31–44.

Hermida, Alfred (2011): Mechanisms of Participation. How audience options shape the conversation. In: Singer, Jane B./Hermida, Alfred/Domingo, David/Heinonen, Ari/Paulussen, Steve/Quandt, Thorsten/Reich, Zvi/Vujnovic, Marina (Hrsg.): Participatory Journalism. Guarding Open Gates at Online Newspapers. West Sussex, UK: Wiley-Blackwell, S. 13–33.

Spyridou, Lia-Paschalia (2019): Analyzing the active audience: Reluctant, reactive, fearful, or lazy? Forms and motives of participation in mainstream journalism. In: Journalism 20, H. 6, S. 827–847..

Teilhabe gehört dazu

Viele internationale Smart-City-Konzepte sehen Bürger:innen vor allem in der Rolle von Datenlieferant:innen und Konsument:innen datenbasierter Dienstleistungen. Die Bevölkerung hat zwar Zugang zu den Daten, aber wenig Mitspracherecht.

Laut Smart City Charta, die deutsche Expert:innen 2017 auf der nationalen Dialogplattform Smart Cities erarbeitet haben, gehört die Teilhabe der Bevölkerung jedoch unbedingt dazu: Nur, wird das große Versprechen, die Stadtgesellschaft in den Umgestaltungsprozess einzubeziehen, auch eingehalten?

„Jein“, sagt BBSR-Experte Ralf Schüle, angesichts der Erfahrungen aus Deutschland. Teilhabe war ein zentrales Ausschreibungskriterium für die Förderung und auch unabhängig davon hätten die meisten der 73 deutschen Modell-Gemeinden und interkommunalen Kooperationen diesen Aspekt sehr ernst genommen: Sie haben in ihrer Strategiephase Mitmach-Workshops zum Ideen-Sammeln veranstaltet, Pop-up-Stores in Fußgängerzonen aufgemacht und digitale Beteiligungsformate sowie andere Mitwirkungsmöglichkeiten angeboten.

Die Experimentierfreude und der Ehrgeiz waren groß. Allerdings steht die Analyse der Wirkungen von Beteiligung nach wie vor am Anfang. „Zum damaligen Zeitpunkt waren die meisten Modellprojekte noch in einer Art Blindflug darüber, was und wen man mit diesen Beteiligungsverfahren erreicht“ , sagt Schüle. Bis heute gebe es wenig Forschung und belastbare Daten dazu.

Für mich ist ein wichtiger Lackmustest, ob Kommunen für sich überhaupt ein Beteiligungskonzept für ihre Smart City entwickelt haben: Wen zu welchem Zeitpunkt und zu welchem Zweck sie einbinden wollen.

Ralf Schüle, Deutschen Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)

Die Wiener Klimateams

Genau das ist der Ansatz der Wiener Klimateams. Hier werden Bürger:innen, sowie ihre Ideen und Entscheidungen in den Mittelpunkt gestellt. Wie funktioniert das? Insgesamt 24 Ideen waren es, die Michael Karg einreichte. “Ich bin recht aktiv im Bezirk, und als ich von dem Projekt hörte und dass man da selbst Ideen einbringen kann und es sogar ein Budget gibt, war ich sofort dabei” , erinnert sich der Währinger zurück. Sein Bezirk war einer der drei Bezirke, in denen die Wiener Klimateams 2023 zum Einsatz kamen.

Gaswerkpark Familienfest Klimateam

Die Initiative der Stadt Wien ist Bestandteil der Smart City Strategie und einer der Ansätze, der “Menschen in den Mittelpunkt stellt”. Bei den Wiener Klimateams geht es nämlich darum, dass Bürger:innen mitdenken und auch mitentscheiden, wie städtische Klimastrategien entwickelt werden.

Grätzelwerkstatt ©Christian Fürthner

Jury wird ausgelost

Der Ablauf der Wiener Klimateams basiert auf vier Phasen. Bürger:innen reichen zunächst Ideen ein: online oder per Einreichkarte. Alle Haushalte in mitmachenden Bezirken werden auch per Postzusendung über ihre Möglichkeiten informiert. “In Währing gab es an öffentlichen Plätzen auch Informationsveranstaltungen. Da wurden Menschen direkt angesprochen” , wirft Karg ein.

Sind die Ideen eingelangt, wird die Umsetzbarkeit durch städtische Mitarbeiter geprüft, die Vorschläge in gemeinsamen Treffen konkretisiert und die finale Auswahl durch eine Bürgerjury beschlossen. Das Budget setzt sich aus 20 Euro pro Bezirksbewohner:in zusammen. Die Jury-Mitglieder werden aus der Bevölkerung ausgelost, um eine breitere gesellschaftliche Diversität zu erreichen.

53 Projekte umgesetzt

2022 begann der Pilotversuch. Im ersten Jahr waren die Bezirke Margareten, Simmering und Ottakring dabei, 2023 Floridsdorf, Mariahilf und Währing. Insgesamt 2400 Ideen wurden seit dem Start eingereicht, wovon 53 Projekte umgesetzt wurden. Auch zwei von Kargs Ideen “Nachhaltige Mobilität - So geht's in Währing!” und “Antoni und Hilde” sind darunter.

Kritikpunkte hat er dennoch. “Absagen auf die Ideen waren teilweise sehr kryptisch. Wenn man sich schon die Mühe macht, etwas einzureichen, wünscht man sich auch eine ordentliche Begründung. Auch waren die Fristen nicht optimal, etwa im Sommer, wenn viele auf Urlaub sind” , sagt der 57-Jährige.

Mehr Maßnahmen, mit denen Bürger:innen direkt angesprochen werden, brauche es auch. “Briefe werden schnell mal ignoriert”, so Karg.

2024 laufen die Wiener Klimateams weiter: in den Bezirken Alsergrund, Meidling und Rudolfsheim-Fünfhaus und mit verbesserten Prozessen. "Wir haben Konsequenzen aus den Learnings der letzten zwei Jahre gezogen" , erklärt Wencke Hertzsch. Sie leitet das Büro für Mitwirkung und das Wiener Klimateam in der Abteilung Energieplanung und blickt auf rund 20 Jahre Berufserfahrung im Bereich Beteiligung auf unterschiedlichen Ebenen zurück.

Die mangelnde Transparenz bei der Prüfung der Ideen werde für die kommende Umsetzungsphase dadurch adressiert, dass sich Expert:innen der Stadt Wien mit Bürger:innen gemeinsam dazu verständigen, welche Vorschläge weiterverfolgt werden sollen. Zusätzlich wird verstärkt in einfacher Sprache und Fremdsprachen informiert, und der zeitliche Ablauf des Projekts angepasst: Die Ideensuche beginnt künftig im Herbst. Die Siegerprojekte werden vor den Sommerferien bekannt gegeben.

Grenzen der Beteiligung

Für Karg bleibt eine Limitation der Klimateams dennoch erhalten.

Damit, dass man sich auf Klimamaßnahmen beschränkt, grenzt man eine Gruppe schon aus. Da ist natürlich die Gefahr, dass dann die Leute einreichen, die sich sowieso schon engagieren. Aber gerade bei solchen Themen wäre es wichtig, auch Menschen mit an Bord zu holen, die sonst nicht dabei wären.

Michael Karg, Anwohner in Wien Währing

Die Ottakringer Bezirksvorsteherin Stefanie Lamp begleitete 2022 eines der Wiener Klimateams, damals noch als Bezirksrätin. “Es ist schwierig auf diese Art und Weise, die eine richtige Idee zu finden. Im Grunde gibt es die gar nicht. Was ein Bürger gut findet, findet ein anderer wiederum schlecht. Das ist schon eine Gefahr” , sagt Lamp. Eine andere sei, dass mit solchen Prozessen nicht die innovativsten oder weitreichendsten Projekte umgesetzt werden können. Aber das sei nun mal Demokratie.

Und demokratischer als dass Bürger:innen Ideen einbringen und Bürger:innen auch entscheiden, geht es wohl kaum.

Stefanie Lamp, Bezirksvorsteherin in Wien Ottakring

Wiener Mitmachbüro

Aufbauend auf den Erfahrungen der Klimateams, wurde im Juni 2024 das Büro für Mitwirkung gestartet. Auch dieses will neue Zielgruppen in ihrer jeweiligen Lebenswelt erreichen und ihnen Mitwirkung und Teilhabe am öffentlichen Leben ermöglichen. Es sollen insbesondere auch jene Menschen abgeholt werden, die von Wahlen oder anderen Möglichkeiten der Beteiligung bisher eher ausgeschlossen waren, sei es aufgrund der Staatsbürgerschaft, des Bildungsstands oder der sozialen und finanziellen Möglichkeiten.

Das Büro ist in der Aufbauphase und setzt auf Netzwerk- und Servicearbeit sowie den direkten Dialog, so soll es auch Aktionen auf öffentlichen Plätzen geben. Das heißt dann "Werkstatt für Mitwirkung": Teams besuchen Orte, wo sich die Zielgruppen aufhalten, mit unterschiedlichen Kooperationspartnern, wie der "Volkshilfe" oder dem Verein "Fremde werden Freunde". "Wir wollen mehr Beteiligung für mehr Menschen ermöglichen und deswegen mehr ko-kreative und kooperative Formate und Prozesse auf den Weg bringen" , so Hertzsch.

Matilda

Wien macht sich erstaunlich viel Mühe, die Menschen einzubeziehen.

Naz

In der Wiener Smart City Strategie nennen sie die soziale Ausrichtung der Maßnahmen übrigens Digitalen Humanismus.

Naz

Der Mensch im Zentrum des Digitalen

Mit dem Einzug digitaler Technologien in den Alltag gesellschaftlicher Bereiche gehen intensive Forschungsleistungen einher. Insbesondere die Geisteswissenschaften schließen an eine lange Tradition an, technische und technologische Entwicklungen zu beobachten. Unter dem Schlagwort „Digital Humanities“ (zu deutsch oft „Digitale Geisteswissenschaften“) gibt es eine beeindruckende Dichte an Forschungsprojekten, bei denen digitale Technologien mit kulturellen Errungenschaften in Zusammenhang gebracht werden. Dazu gehört unter anderem die Bearbeitung ethischer Fragen und Verbindung von humanistischen Konzepten mit modernen gesellschaftlichen Voraussetzungen.

Hand in Hand geht eine rege sozialwissenschaftliche Forschungsaktivität, die Gesellschaften und Teilgesellschaften in Beziehung zu technologischen Entwicklungen stellt. Etwa Forschungen zu Auswirkungen des „Digital Divide“, die sich Unausgewogenheiten von Ressourcen und im Umgang mit neuen Technologien ansehen, oder die Erarbeitung von empirisch belastbaren Effekten, die z.B. Fallstricke der modernen Welt für demokratisch organisierte Gesellschaften ausmachen. In den vergangenen Jahrzehnten sind zahlreiche Arbeiten zur Klärung und Interaktionen von technologischen Innovationen und sozialen, normativen, medialen, kommunikativen, ethischen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen der Gesellschaft entstanden.

In Wien ließ 2019 auch die Technische Universität mit einem interessanten Konzept aufhorchen. Unter der Bezeichnung „Digital Humanism“ bzw. „Digitaler Humanismus“ möchte das Forscher:innenteam ein Markenzeichen setzen. In einem knapp vierseitigen Dokument, dem „Wiener Manifest für Digitalen Humanismus“, will man sich der komplexen modernen Lage in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Disziplinen in einem demokratischen Sinn stellen. Dort heißt es: „Die Herausforderung einer gerechten und demokratischen Gesellschaft mit dem Menschen im Zentrum des technologischen Fortschritts muss mit Entschlossenheit und wissenschaftlichem Einfallsreichtum bewältigt werden. Technologische Innovation erfordert soziale Innovation und diese erfordert ein breites gesellschaftliches, demokratisches Engagement.“

Diese Initiative, die unter dem Namen „Digital Humanism Initiative” am „Center for Artificial Intelligence and Machine Learning” der TU Wien angesiedelt ist, wird neben anderen auch von der Stadt Wien gefördert. 2022 brachten deren Magistratsdirektionen "Wissenschaft, Forschung & Wirtschaftsstandort" und der Geschäftsbereich "Organisation und Sicherheit – Gruppe Prozessmanagement und IKT-Strategie" eine entsprechende Broschüre unter dem Titel „Digitaler Humanismus in Wien“ heraus, die auf über 30 bunt gestalteten Seiten die wesentliche Umsetzung der Initiative für die Donaumetropole in übersichtlicher Form vorstellt.

Der Prospekt erklärt, was die gestellte Forderung „Der Mensch im Mittelpunkt“ in der digitalen Welt konkret bedeutet und welche normativen sowie ethischen Regeln die praktische Anwendung verlangt. Dabei knüpft die Stadt Wien sich die gesellschaftlichen Bereiche Arbeit, Bildung, Kunst & Kultur, Gesundheit, Ökonomie und Nachhaltigkeit vor und erklärt, wie man demokratische Grundwerte bei allen technologischen Entwicklungen und Herausforderungen nicht aus den Augen verlieren will.

Einen guten Eindruck davon bekommt man, wenn man sich die Leitfragen der Stadt Wien für die Umsetzung des „Digitalen Humanismus“ ansieht:

Befähigungskompetenz & Partizipation

  • Werden zukünftige Anwender:innen bei der Entwicklung und Implementierung neuer digitaler Lösungen so weit wie möglich einbezogen?
  • Sind Bürger:innen und Mitarbeiter:innen in der Lage digitale Technologien souverän zu nutzen?
  • Braucht es mehr digitale Grund-, Aus- und Weiterbildung, um die Prozesse nachvollziehen und mitgestalten zu können?

Diversität, Nutzen & Zugänglichkeit für Alle

  • Sind digitale Lösungen benutzerfreundlich und barrierefrei gestaltet?
  • Sind die (digitalen) Services der Stadt für alle Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft oder Bildungsgrad, zugänglich?
  • Unterstützen die digitalen Lösungen die Diversität unserer Stadt? (Kann Algorithmic Bias erkannt und unterbunden oder minimiert werden?)

Verantwortung

  • Ist die Zuständigkeit für digitale Lösungen klar geregelt? Gibt es für jede Lösung / jedes Produkt der Stadt Wien eine verantwortliche Stelle? (Accountability)
  • Sind die notwendigen Maßnahmen getroffen, um eine resiliente und souveräne IT-Infrastruktur zu schaffen? Ist die Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit und Souveränität der Wiener Stadtverwaltung gewährleistet?
  • Wird bei Entscheidungen, die einen anderen Menschen direkt betreffen, die letzte Entscheidung weiterhin von einem Menschen getroffen? (Human Oversight, Human Agency)

Faires & Transparentes Design

  • Sind digitale Anwendungen und (KI) Entscheidungen für die Anwender:innen nachvollziehbar und transparent?
  • Sind Informationen zur Nutzung einer digitalen Applikation vorhanden und verständlich?

Systemstandards

  • Funktionieren die digitalen Anwendungen der Stadt Wien sicher und robust?
  • Werden Datenschutz und Datensicherheit schon bei der Konzeption einer Applikation berücksichtigt? (Privacy by design)
  • Sind die Daten der Anwender*innen per default geschützt? (Privacy by default)

Abwägung der Vor- Und Nachteile

  • Bringen digitale Lösungen einen konkreten Mehrwert für die Bürger:innen der Stadt oder für die Stadtverwaltung?
  • Werden (potentielle) digitale Lösungen auf ihre Ressourceneffizienz geprüft, bevor sie eingesetzt werden?

Ein überzeugendes Konzept, für dessen Umsetzung eine intensive Zusammenarbeit von unterschiedlichen Disziplinen, Interessensvertretungen, NGOs, etc. angedacht ist und auch notwendig erscheint, um die ambitionierten Ziele zu erreichen.

Genau an diesem Punkt könnte durchaus noch nachgeschärft werden. Es gibt inzwischen etliche Publikationen, die angetrieben von der Wiener Initiative an der Technischen Universität entstanden sind. Was dabei (noch) fehlt, ist die konsequente, fächerübergreifende und ausgewogene Einbindung anderer Disziplinen, insbesondere wenn es um sozialwissenschaftliche Forschung geht. Zwar werden als theoretischer Ausgangspunkt und interpretatorisches Grundgerüst ethische und demokratiepolitische Fragestellungen gewählt, doch an der tatsächlichen Ausgewogenheit und Einbindung von sozialwissenschaftlichen Forscher:innen hapert es. Konzeptuell werden sie zwar inkludiert, personell partizipieren sie aber kaum.

Dennoch: Der Auftakt des Manifests und die weiterführende Strategie der Stadt Wien stellt einen wichtigen Schritt dar und liefert handhabbare Leitfragen, an denen sich Projekte orientieren können. Das ist sehr wertvoll und richtet den Blick auf die Vereinbarkeit von technologischer Entwicklung mit demokratischen Grundwerten.

Matilda

Ich weiß aus meiner Recherche über ethische KI, dass man diesen Anspruch in Österreich tatsächlich ernst nimmt…. Ich finde diese Klimateams cool, aber aus meiner Sicht noch sehr analog. Dafür gibt es doch längst Beteiligungsplattformen. Schau, wie Hamburg es macht. Dort stimmen Bürger:innen seit 2016 über die Plattform DIPAS über wichtige Vorhaben in der Stadt ab.

Beteiligung in Hamburg

Wo in Altona fehlen Fahrradbügel? Wo braucht es speziell solche für Kinder- und Lastenräder? Darüber konnten Bürger:innen vier Wochen lang über die Beteiligungsplattform DIPAS (Digitales Partizipationssystem) abstimmen.

Screenshot DIPAS

Auf einer interaktiven Karte des Hamburger Stadtteils sieht man auf einen Blick, dass Einträge sich an ein paar neuralgischen Stellen clustern, während an anderen Orten wohl kaum Bedarf besteht. Auch die Kommentare dazu sind sachlich: „Im Büro sind wir acht Leute, die regelmäßig mit dem Rad fahren. Die Bügel gegenüber bei Netto sind immer schon belegt“, heißt es dort zur Begründung oder dass Eltern bei den Sporthallen ihre Kinder mit dem Rad bringen und abholen würden. Möglich ist es auch, bereits markierte Bereiche zu liken, statt einen eigenen Beitrag dazu abzusetzen.

Intensiv wurde auch das Zukunftsbild der Hamburger Innenstadt auf der Plattform diskutiert. Die Teilnehmenden regten beispielsweise einen gemeinsamen Bringdienst für den Einzelhandel als Alternative zum Online-Shopping an. Oder wollten verkehrsberuhigte Flächen zum Kaffeetrinken sowie Förderung für Initiativen, die Tauschbörsen, Reparatur, Recycling oder fair gehandelte Waren anbieten. Mehr Kultur und bezahlbares Wohnen in der Innenstadt sind ebenfalls erwünscht.

DIPAS - digitale Beteiligungsplattform

Hamburg ist ein Stadtstaat: zugleich Bundesland und eine Gemeinde mit über 100 Stadtteilen, einschließlich der Nordsee-Insel Neuwerk. Sie hat eine lange Tradition als Stadtrepublik mit einem selbstbewussten Bürgertum und einer ziemlich regen Bürgerbeteiligung. Einer Gruppe von Aktivisten („Komm in die Gänge“) gelang es sogar, historische Häuser im Gängeviertel vor dem Abriss zu retten, die Stadt dazu zu bringen, den Verkauf der Fläche an einen Investor rückabzuwickeln und die Sanierung der Gebäude zu fördern. Heute ist das Gängeviertel ein Kunst- und Kulturstandort.

Die Plattform DIPAS, über welche die Hansestadt Bürgerbeteiligung online und vor Ort organisiert, nutzt Geodaten, Luftbilder, Baupläne und seit kurzem auch digitale Zwillinge, um genau lokalisiertes Feedback zu Planungsvorhaben zu erhalten. Digitale Zwillinge nennt man die 3D-Modelle von Bauwerken, die idealerweise alle technischen und Betriebsdaten beinhalten. Entwickelt wurde die Plattform 2016 mit Hilfe der Hafen City Universität (HCU) bzw. ihres City Science Labs. Seitdem wurden rund 120 Verfahren mit knapp 50 000 Beiträgen durchgeführt.

3D Modell

Mobilitätswende mobilisiert am meisten

Auf DIPAS navigator werden alle Verfahren tagesaktuell dargestellt. Interessierte können nachlesen, wo, wann und zu welchen Themen Beteiligung schon stattgefunden hat, was zum Mitmachen gerade offen ist und wann Termine vor Ort anstehen. Auch die übergeordneten Statistiken sind auf der Seite zu finden: Der städtischen Mobilitätswende geschuldet befassen sich die meisten Verfahren mit Mobilität und öffentlichem Raum.

„Die Beteiligung ist offen für alle und anonym. Es ist keine Anmeldung erforderlich“, schildert Claudius Lieven, DIPAS-Projektleiter bei der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen. Theoretisch könnten auch Leute von außerhalb schreiben und liken, aber meist seien es die unmittelbar Betroffenen. „Es sind Menschen, die die Gegebenheiten vor Ort kennen“, das merke man an den Beiträgen. Die Verfahren können ganz kleinteilig sein und lediglich einen Bahnhof-Vorplatz, eine Grünanlage, einen Fuß- oder Radweg betreffen. Oder aber die ganze Stadt: z.B. das Lärmkonzept für Hamburg.

Entsprechend breit streut die Beteiligung, erzählt Lieven: 50 Beiträge zur Neugestaltung eines Spielplatzes und mehrere Tausend beim Leitbild für die Innenstadt.

Kleines Thema – kleines Feedback, großes Thema – großes Feedback.

Claudius Lieven, DIPAS-Projektleiter bei der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen

Einen Zusammenhang sieht er auch zwischen der Art der Fragestellung und der Anzahl der Rückmeldungen. Unter einem „Mobilitätshub“ können sich die meisten nichts vorstellen. Unter “einer Station mit Carsharing, Rad- und Roller-Verleih, Park- und Lademöglichkeiten” schon eher. „Da ist es an uns, die Fachkollegen entsprechend zu beraten.”

Es sei ein selbstsellektives und kein repräsentatives Verfahren, betont Lieven. Es äußerten sich vor allem diejenigen, die sich für das Thema erwärmen – „aber zu einer Bürgerversammlung gehen auch nur die, die sich dafür interessieren“. Cookies und andere Vorrichtungen sollen verhindern, dass manche sich übermäßig oft beteiligen, doch mit einigem Aufwand ließen sich die Hürden umgehen.

Naz

Hamburg setzt also voll auf Online-Beteiligung? Damit kann man doch nie und niemals alle Bevölkerungsgruppen erreichen.

Matilda

Sie nennen es “hybrides Verfahren”. Es gibt auch Infoveranstaltungen vor Ort, aber auch dort hängt meist nicht nur eine Karte an der Wand.

Touchtable und Datenbrille

Die knapp zwei Millionen Hamburger:innen sind nach DIPAS-Angaben zu über 90 Prozent Onliner: Technische Hürden sieht Lieven für Online-Beteiligungen deshalb keine. Diese sind zeit- und ortsunabhängig, daher können weitere Bevölkerungsgruppen aktiviert werden. Geplant ist, die Nutzung in mehreren Sprachen mittels einer automatischen Übersetzungsfunktion zu ermöglichen.

„Wir empfehlen aber in der Regel hybride Verfahren: Manches vermittelt sich live face-to-face besser“.

Claudius Lieven, DIPAS-Projektleiter bei der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen

Bei einer Kick-off-Veranstaltung im Gemeindezentrum werde der Plan und die Gestaltungsspielräume vorgestellt und mitgeteilt, dass es danach die Möglichkeit gibt, innerhalb bestimmter Fristen online Wünsche zu äußern.

Dipas Finding Places

Bei den Vor-Ort-Workshops stellt die Behörde oft digitale Tische (Touchtables) auf, um die Änderungen zu veranschaulichen. „Wir haben in Hamburg sehr viele Karten digitalisiert. So kann man z.B. sehen, wie das neue siebenstöckige Gebäude die umliegenden niedrigeren Wohnblocks verschatten wird, den Lärm vom Spielplatz oder die Windströmungen um die Ecke simulieren. Die Vision des City Science Labs ist, künftig die Bürger:innen mit Hilfe von Virtual- bzw. Augmented Reality den neuen Entwurf schon im Voraus kreieren und erkunden zu lassen.

“Unsere Stärke liegt in der raumbezogenen Beteiligung, etwa bei Bauvorhaben, Straßenplanungen und Freiraumgestaltung. Das kommt daher, dass wir DIPAS in einer Planungsbehörde, ganz nah an diesen Einsatzgebieten entwickelt haben”, so Lieven. Demnächst soll aber auch die textbasierte Beteiligung ausgebaut werden: “Damit beginnen wir im Herbst. Wir wollen erreichen, dass auch Dokumente gut kollaborativ bearbeitet werden können".

Was geschieht mit den Bürgerwünschen?

Entschieden wird von legitimierten Gremien: Im Bundesland Hamburg sind das die kommunalen Parlamente der sieben Bezirke. Beteiligungsformate entbinden die Stadt nicht von ihrer Planungsverantwortung, sagt auch BBSR-Experte Schüle.

„Wir versprechen nicht, dass alles, was aufgeschrieben wurde, auch so umgesetzt wird. Es geht um die Aufdeckung von Belangen, die sonst vielleicht übersehen werden, denn die Bürger wissen am besten, wie die Situation in ihrer Straße Tag und Nacht, sommers wie winters ist.“, betont Lieven. Besonders bei Themen, zu denen man mit Diskussionsbedarf rechnet, lohne es sich, von vornherein einen Gesprächskanal zu eröffnen und nicht erst, wenn es böse Briefe hagelt. Wichtig sei aber auch zu begründen, was aufgrund von Kosten oder gesetzlichen Regelungen nicht realisierbar sei.

Es sind Meinungsbilder. Daraus werden nicht direkt Entscheidungen abgeleitet.

Claudius Lieven, DIPAS-Projektleiter bei der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen

DIPAS setzte auf Open Source und Nachvollziehbarkeit

„Mittlerweile sind wir bei der Version 3.0. Unser größtes Problem ist, die ganzen Beiträge zu erfassen und zu verarbeiten. Deswegen entwickeln wir KI-Instrumente für die Auswertung. Teil der Philosophie ist: Die Sachen bleiben online.“ Stadtplanung dauert lange, oft mehr als ein Jahrzehnt. Am Ende tauche die Frage auf: Warum wurde damals so und nicht anders gemacht? „Wir sind gebunden an Entscheidungen, die vor Jahren getroffen wurden“. Deshalb sei es wichtig, die gesamte Diskussion zu dokumentieren und für immer zugänglich zu machen.

DIPAS ist Open-Source und wurde unter GNU General Public License (GPL Lizenz) für freie Software im Februar 2021 anderen Städten, Institutionen und Forschungseinrichtungen zum Installieren und Mitentwickeln zur Verfügung gestellt. München, Bremen, Kiel, Leipzig und Haßfurt tun es bereits (Anwender Community) und tauschen sich aus. „Vorteil einer Plattform ist: Bürger und Verwaltung gewöhnen sich daran“, so Lieven.

Es brauche eine Serverinfrastruktur, verfügbare Geodaten, kompetente Administratoren – und wer das nicht hat, könne beim IT-Dienstleister für die öffentliche Verwaltung Dataport auch DIPAS as a service kaufen. Das kostet 37 000 Euro jährlich. Ab sieben Verfahren pro Jahr lohnt sich der Aufwand, meint Lieven: Das Potenzial habe schon eine mittelgroße Stadt. Für ein Bruchteil der Kosten ließen sich aber auch Einzelbeteiligungsverfahren bei Dataport buchen.

Naz

Wie Partizipation das Rückgrat oder Schafott für Demokratie sein kann

Zukunftsprognosen ließen im Europa der 1930er Jahre aufhorchen: Endlich können sich alle Menschen eine Stimme verschaffen und mit ihren Radiogeräten auf ihre Bedürfnisse, auf Arbeitsleben, Missstände und Alltagsfreuden aufmerksam machen. Die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Der Rundfunk wurde bekanntlich im Zweiten Weltkrieg massiv als NS-Propagandainstrument für ein faschistisches Regime missbraucht.

Zukunftsprognosen der späten 1990er und 2000er klangen ähnlich: Mit der Verbreitung des Internets vernetzen sich Angehörige aller Nationen, versprühen Solidarität und ermächtigen sich durch unüberhörbare Stimmenvielfalt. Doch auch hier folgte prompt die Wende. Gigantische IT-Konzerne richten sich nach kommerziellen Interessen, bei denen wüste Beschimpfungen und Hass die Kassen klingeln lassen. Monopolisierung und algorithmisch gesteuerte Aufmerksamkeit ersticken Pluralität wie Transparenz. Obendrein nutzen autokratische Demagog:innen den Kommunikationsraum geschickt, um demokratische Grundwerte auszuhebeln – trotz oder gar mit Hilfe massenhafter Beteiligung von Bürger:innen.

Partizipation allein bringt nicht zwingend einen positiven Mehrwert für demokratische Gesellschaften. Es spielt eine wesentliche Rolle, sich auf grundlegende demokratische Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu einigen und sie zu schützen. Ohne ein stabiles Grundgerüst können ausgrenzende und feindselige Entwicklungen ausufern, Manipulationen aus finanziellen, ideologischen oder machtpolitischen Interessen überborden, die trotzdem partizipativ sein können.

Allerdings: Demokratien existieren aufgrund der Beteiligung ihrer Bürger:innen. Partizipation ist ein essenzieller Bestandteil für deren Qualität. Der Gang zur Wahlurne, um Vertreter:innen für eigene Anliegen zu bestimmen, gilt dabei als Mindestmaß. Darüber hinaus braucht es zivilgesellschaftliche Positionen, die etwa durch Initiativen und NGOs eingebracht werden. Vor allem aber leben starke demokratische Gesellschaften von Individuen und Gemeinschaften, die mitgestalten.

Im Idealfall spielt Partizipation eine substanzielle und kontinuierliche Rolle in der Gesellschaft. Sie bleibt nicht auf die reine Wahl von Vertreter:innen beschränkt, sondern basiert auf dezentralisierten gemeinschaftlichen Entscheidungsfindungen als tragende Säulen des politischen Alltags. Wie gut partizipative Projekte funktionieren können, hängt von gewissen Rahmenbedingungen ab. Dazu gehört etwa, dafür zu sorgen, dass relevantes Wissen vorhanden ist, oder den Erfahrungsschatz aller Teilhabenden im Umgang mit Gruppen zu berücksichtigen, dass ein Mindestmaß an Vertrauen untereinander herrscht sowie dass es Möglichkeiten für persönlichen Austausch gibt und natürlich ein gewisser Grad an Effektivität.

Genauer hat sich dieses Themas der renommierte Kommunikationswissenschafter Nico Carpentier angenommen, der Komponenten für besonders gelungene Partizipation in demokratischen Gesellschaften entwickelt hat.

Einmischen, mitmischen, vermischen, aufmischen: Bestandteile für demokratische Partizipation

Balance von Autorität

Das kleinste, partizipative Ausmaß in einer Demokratie beschränkt die politische Macht auf gewählte Repräsentant:innen. Ein demokratisches System, das auf Mitwirkung fokussiert, bietet hingegen ein Gleichgewicht von repräsentativer und partizipativer Machtausübung. Werden etwa durch politische Institutionen Möglichkeiten für Bürger:innen geschaffen mitzugestalten? Können sie sich dabei dezentral, also losgelöst und unabhängig von Institutionen, einbringen und gemeinschaftlich Entscheidungen treffen?

Mehr, mehr und nochmals mehr

Teilhabe wird nicht auf bestimmte Eliten beschränkt, sondern es gibt einen aktiven politischen Willen für den Ausbau von partizipativen Möglichkeiten. Werden zum Beispiel Ressourcen bereitgestellt, damit die Teilhabe für möglichst viele Personen und Gruppen funktionieren kann?

Lebensbereiche einbinden

In einer minimalen partizipativen Demokratie findet Beteiligung auf der Makroebene statt, etwa auf Bezirks-, Bundes-, oder Länderebene. Wird demokratische Partizipation erweitert, wird diese Makroebene mit der Mikroebene verknüpft und errichtet Teilhabeoptionen in Schule, Familie, am Arbeitsplatz oder bei Interessengruppen. Zentrale Anliegen sind etwa, ob unterschiedliche Bereiche des politischen und sozialen Lebens berücksichtigt oder miteinander verbunden werden? Werden Ebenen des alltäglichen Lebens, aber auch lokale Politik, Vereine, Interessenvertretungen, Aktivist:innen bis hin zur institutionalisierten Politik einbezogen?

Das Soziale ist Politisch

Um demokratische Teilhabe von möglichst vielen im Blick zu behalten, müssen soziale Anliegen gehört und relevant sein. Gibt es etwa genügend Räume, in denen Bürger:innen alle für sie wichtigen Bedürfnisse einbringen können? Gibt es die Zeit und Ressourcen herauszufinden und zu verstehen, was die Bedürfnisse sind – auch wenn sie z.B. nicht einfach erfassbar sind, wenn sie etwa hinter einer ängstlichen, abwehrenden oder gar problematischen Haltung stecken?

Teilhabe aus vielen Richtungen

In Demokratien, die wenig auf Partizipation setzen, werden Bürger:innen nach Aufruf der Obrigkeit in einem recht engen Rahmen eingebunden, etwa in Form von Abstimmungen. In dem Streben nach einer maximal demokratischen Partizipation setzt man auf multidirektionale Partizipation, also auch auf z.B. selbstorganisierte Beteiligung, in der Bürger:innen sogar Änderungen im System anstoßen oder bewirken können: Gibt es etwa die Möglichkeit „von unten“ nachhaltige Änderungen zu bewerkstelligen? Können durch partizipative Projekte und Initiativen auch institutionalisierte politische Strukturen verändert werden?

Einbezug der Leisen und Unbequemen

Eine starke Demokratie setzt sich mit Minderheiten, mit den leisen vielleicht oft überhörten Stimmen auseinander – selbst wenn das kompliziert und anstrengend werden kann. Umgesetzt auf partizipative Strukturen steht im Fokus, wie mit diversen oder gar widersprüchlichen Stimmen bei Entscheidungen umgegangen wird. Wie wird sichergestellt, dass schwächere und leisere Stimmen eingebunden werden? Gibt es Raum und Zeit für eine aktive Suche nach sonst über- oder ungehörten Stimmen? Gibt es Strategien, um Konflikte zu finden und sie demokratisch zu lösen?

Auch wenn in der praktischen Umsetzung kaum alle Faktoren in einem einzelnen Projekt verwirklicht werden können, kann und sollte eine demokratiepolitische Stoßrichtung dafür sorgen, dass in der Gesamtheit diese Aspekte umgesetzt werden. Gewiss ist: Demokratie kann ohne Partizipation nicht auskommen. Und Partizipation braucht die Orientierung an demokratischen Grundwerten.

Matilda

Beteiligung muss jedoch nicht nur von oben organisiert werden. Auch Bürger:innen können sie “von unten” einfordern - mit den neuen digitalen Werkzeugen bieten sich dafür ganz neue Chancen.

Naz

Ja, Petitionen beispielsweise sind eine niederschwellige Möglichkeit. Trotzdem nehmen viele ihr Recht nicht wahr.

Unterschriften sammeln: Das Petitionsrecht

Das Wiener Petitionsrecht bietet eine Möglichkeit, sich unmittelbar in politische Prozesse einzubringen. Wer ein Anliegen hat, kann dieses mit Unterschriftenlisten oder auf der Online-Plattform einbringen. Sobald eine Petition von 500 Wiener:innen unterstützt wird, wird sie im Petitionsausschuss des Gemeinderates behandelt. (Über eine erfolgreiche Petition und das daraus entstandene Projekt kann man hier lesen)

Gesetzlich verankerte Beteiligungs- und Petitionsrechte, aber auch Landtags- und Bezirksvertretungswahlen oder Volksbefragungen und Volksabstimmungen stehen jedoch nur wahlberechtigten Menschen offen. Jede:r dritte Wiener:in ist damit ausgeschlossen. Laut einer Studie des Instituts Foresight gibt es sowohl bei der Bekanntheit der Beteiligungsangebote als auch in der tatsächlichen politischen Teilhabe in Wien eine Schieflage.

Laut Studienergebnissen kennen Wiener:innen im Durchschnitt nur fünf der 13 erfassten Beteiligungsangebote. Rund 40 Prozent haben in den vergangenen fünf Jahren mindestens ein Angebot genutzt. 15 Prozent, das sind rund 250.000 Menschen, haben bisher von keinem Beteiligungsangebot gehört, und 60 Prozent der Wiener:innen haben bisher an keinem Angebot teilgenommen. Häufigste Gründe dafür sind Zeitmangel, fehlende Information und die Einschätzung, dass die Beteiligung nicht politisch wirksam sei.

Vor allem das untere Einkommensdrittel nimmt laut Foresight zunehmend von politischer Beteiligung Abstand oder ist aufgrund einer anderen Staatsbürgerschaft davon ausgeschlossen. Enttäuschung über die fehlende Anerkennung in der gesamten Gesellschaft, Krisenerfahrungen und der angedrohte Sozialabbau überlagerten auch die Bereitschaft, Mitspracheangebote wahrzunehmen.

Wie wird Beteiligung geregelt?

Es wird zwischen formeller und informeller Beteiligung unterschieden. Der Unterschied liegt vor allem in der Form, und beide haben ihre Vorzüge, die sich gegenseitig ergänzen können. Während es für die formelle Beteiligung festgelegte Strukturen und Rahmenbedingungen gibt, die meist gesetzlich geregelt sind, basiert die informelle Beteiligung auf dem gemeinsamen Willen der Beteiligten:

Formelle Beteiligung bezieht sich auf strukturierte und oftmals offizielle Prozesse, bei denen die Teilnehmenden klare Rollen und Verantwortlichkeiten haben. In den meisten Ländern ist geregelt, unter welchen Umständen Bürger:innen in welcher Form in Entscheidungsprozesse einbezogen werden.

Das geschieht z.B. durch Infobriefe an die unmittelbaren Nachbarn, die Auslage von Plänen an öffentlich zugänglichen Orten, Informationsveranstaltungen und die Gelegenheit zur Stellungnahme off- und online. Die Abläufe und Regeln sind festgelegt, die Ergebnisse sind meist dokumentiert und haben rechtliche oder politische Relevanz. Genauso ist formell geregelt, auf welchem Weg Bürger:innen ihrem Anliegen Gewicht verleihen können, wie etwa im Wiener Petitionsrecht, Volksbegehren und Ähnlichem.

Informelle Beteiligung ist weniger strukturiert und kann in verschiedenen, oft spontanen Kontexten stattfinden. Hier gibt es keine festen Regeln oder Protokolle, die Teilnehmer:innen können freier ihre Meinungen und Ideen äußern. Informelle Beteiligung kann dazu beitragen, ein breiteres Spektrum an Perspektiven zu erfassen und das Engagement der Menschen zu fördern.

Überblick der Beteiligungsmöglichkeiten in Wien

Beteiligungsrechte (gesetzlich verankerte politische Beteiligung)

  • Landtagswahlen
  • Bezirksvertretungswahlen
  • Volksbefragungen (Stadt, Stadtteil)
  • Volksabstimmung (Land, Gemeinde)
  • Volksbegehren (Land)
  • Petitionsrecht (Gemeinde, Bezirk)
  • Bürgerversammlung (Bezirk, Bezirksteil)
  • Sprechstunde Bezirksvorstehung/Mitwirkung Bezirksbevölkerung

Beteiligungsverfahren (gesetzlich nicht verankerte politische Beteiligung)

  • Partizipative Stadtentwicklung
  • Partizipatives Budget /Mitmachbudgets
  • Partizipatives Klimabudget/Klimateams
  • Kinder- & Jugendparlamente der Stadt
  • Kinder- & Jugendmillion
  • Jugendparlament in den Bezirken

Gemeinwesenarbeit & angeleitete selbstorganisierte Beteiligung

  • Gebietsbetreuung Stadterneuerung
  • Lokale Agenda21
  • WieNeu
  • Wohnpartner
  • Weitere Beteiligungsangebote der Gemeinwesenarbeit
  • Beteiligungsmöglichkeiten bei Betrieben der Stadt

Selbstorganisierte politische Beteiligung

  • Bürgerinitiativen
  • Mitarbeit in / Gründung von Parteien
  • Selbstorganisierte Beteiligungsverfahren
  • Besetzungen & Demonstrationen
Quelle: Foresight: Mehr Zusammenbringen: Zur Verbesserung politisch wirksamer Beteiligung in Wien

Digitales Mitgestalten: Open Source

Smarte Konzepte werden in Wien allerdings nicht nur von der Stadt und ihren Institutionen angewendet und umgesetzt. Auch außerhalb der offiziellen Smart City Wien Strategie gibt es Initiativen und Projekte, welche die Stadt smarter machen wollen.

Wir machen Wien

Screenshot 'Wir machen Wien'

Das verkehrspolitisch engagierte Projektteam bildete sich aus den Aktivist:innen rund um “Platz für Wien”. Es bietet eine zentrale Anlaufstelle für Bürger:innen-Initiativen in den Bereichen Klimaschutz, Mobilität, Begrünung und Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum an. Auf der Plattform präsentieren sich Initiativen und stellen Wissen zur Verfügung. Aktiven Bürger:innen soll ermöglicht werden, sich zu vernetzen, zu koordinieren und breiter zu mobilisieren. Ziel ist es vor allem auch, von den Erfahrungen früherer oder anderer Bürger:inneninitativen zu lernen. Ganz nach dem Motto: Man muss ja nichts jedes Mal das Rad neu erfinden.

“DIGIgrätzl”

Im DIGIgrätzl können sich Bewohner:innen am Gemeinschaftsleben beteiligen - vom Anbringen eines Müllproblems bis hin zur Ankündigung eines Flohmarktes. “Die Idee dahinter war, dass wir Nachbarschaften in neu entstehenden Wohngebieten ein digitales Tool in die Hand geben, damit sie sich besser vernetzen und austauschen können, aber auch um solidarische Praxen besser zu leben”, sagt Romy Grasgruber-Kerl, Gründerin und Geschäftsführerin des mitgestalten Partizipationsbüro, welche DIGIgrätzl ins Leben gerufen haben.

Digi Grätzl Wien Workshop

Die Nachbarschaftsplattform nutzt als Grundlage die Open Source Partizipationssoftware Decidim. Gefördert wird das Projekt im Rahmen des Digifonds-Programms der Arbeiterkammer. Zu den Projektpartnern zählen realitylab, welche soziale Prozesse im geförderten Wohnbau begleiten, sowie Politikwissenschaftlerin und Demokratieberaterin Tamara Ehs. Zu Projektbeginn wurde für sechs Monate ein Decidim-Rohling im neu entstandenen Wohnkomplex “Lebenscampus” in Meidling angewendet. Bewohner:innen bekamen den Zugang zu der gemeinsamen Plattform. Deren Feedback wurde daraufhin in Workshops eingeholt und war die Grundlage für die Weiterentwicklung von Decidim zu DIGIgrätzl.

Denn Schwerpunkt des Projekts ist die Einbeziehung der Bewohner:innen in die Technologieentwicklung. “Was wir in dieser Phase gemerkt haben, war, dass sie den Rohling noch wenig genutzt, sondern lieber Facebook verwendet haben”, beobachtete Grasgruber-Kerl. Der Rohling sei zu komplex gewesen, deswegen habe man sich bei der Entwicklung von DIGIgrätzl auf Wunsch der Bewohner:innen an der Funktionalität einer Facebook-Gruppe orientiert. “Wir haben die Lehren gezogen, das Team hat an einer kompletten Umgestaltung gearbeitet. Wir haben in den letzten Monaten versucht, die Stimmen der Bewohner:innen in Technik zu übersetzen. Das Ergebnis sieht man nun beim Launch im Herbst”, sagt Grasgruber-Kerl.

Im Gegensatz zu Facebook hat DIGIgrätzl den Vorteil, eine Open-Source und White Label Lösung zu sein. Viele Menschen wollen auch gar kein Facebook mehr haben, um sich mit anderen zu vernetzen. Dort gibt es mittlerweile sehr viel Werbung und oft uninteressante Inhalte. Das wird bei DIGIgrätzl anders werden.

Romy Grasgruber-Kerl, Gründerin und Geschäftsführerin des mitgestalten Partizipationsbüros
Matilda

Das erinnert mich an die OK Labs… Sie programmieren ebenfalls selbst, was sie an städtischen Dienstleistungen vermissen und setzen auf offenes Wissen und offene Daten.

OK Labs - wenn Bürger:innen coden

Wenn Hamburg heute offen mit den Verwaltungsdaten umgeht, ist das auch ein Verdienst von Timo Lundelius und seinen Mitstreiter:innen für Open Data, Open Knowledge und Open Source. Er ist Mitglied im Code for Hamburg Lab, einem gemeinnützigen Verein im Netzwerk Code for Germany, das wiederum zum internationalen Code for all gehört.

Die Labs sind locker organisierte ehrenamtliche Gruppen von Programmierer:innen, Techniker:innen, Designer:innen, Medienschaffenden und anderen politik- und dateninteressierten Bürger:innen. Bundesweit gibt es rund 30 mit Hunderten von Aktiven, finanziert werden sie von der Open Knowledge (OK) Foundation.

Wenn die öffentliche Hand Geld ausgibt, müssen die Ergebnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Dafür streiten wir.

Timo Lundelius, Code for Hamburg Lab

Die Hamburger Gruppe besteht seit zehn Jahren und organisiert jährlich das „Forum Offene Stadt“, bei dem Senatoren und Stadträte sowie die Digitalisierungsverantwortlichen von Stockholm, Tallinn, Barcelona und Taiwan auf “Nerds”, „Fachidioten“ und Verwaltungsangestellte treffen.

Das demokratische Potenzial von Technik

Hin und wieder verzweifelte Lundelius, dass das ganze Engagement nichts bringt. Und wenn doch, dann dauert es lange. Immerhin: 2014 entstand das Hamburger Transparenzportal für öffentliche Verwaltungsdaten. Besonders für jüngere Verwaltungsangestellte, die die Ära der Amtsgeheimnisse nicht kennen, sei es völlig normal, Daten zu teilen und Open-Source-Projekte zu unterstützen. „Da gibt es sehr mutige Köpfe. Sie haben die Daten zugänglich gemacht und vielleicht sind sie enttäuscht, dass sie zu wenig genutzt werden."

Die OK Labs greifen sich die kommunalen Daten und bereiten daraus übersichtliche Apps und interaktive Karten. Damit können Interessierte die Luft- und Wasserqualität in ihrem Stadtviertel erkunden, Hürden für Radfahrer dokumentieren oder Angebote der Obdachlosenhilfe suchen. „Wir öffnen Wissen für die digitale Zivilgesellschaft, zeigen das demokratische Potenzial von Technik“, steht auf der Webseite von „Code for Germany“. Offenes Wissen sei die Voraussetzung für jegliche Mitbestimmung und für den faktenbasierten politischen Diskurs.

Naz

Weißt du, wie viele Leute auf die kostenlosen Apps und Karten zugreifen und ob im Ergebnis die Luft sauberer und die Hürden für Radfahrer beseitigt werden?

Wir zählen nicht und werten nicht aus

Das weiß keiner, sagte mir Timo Lundelius. „Wir zählen nicht und werten nicht aus“: Der Gedanke sei der Mehrheit der ehrenamtlichen Mitstreiter:innen, schon allein aus Datenschutzgründen zuwider. „Wir sind politisch komplett unabhängig und müssen uns an keine Auflagen halten. Wir müssen auch niemanden fragen: Das ist das Tolle am Open Source-Ansatz.“

Der Verein schafft Prototypen, kann aber seine Projekte nicht dauerhaft betreiben, denn dahinter stehen keine öffentlichen Mittel, keine Abo- oder Werbeeinnahmen. Toll wäre es, wenn Behörden, Stadtwerke oder Wohlfahrtsverbände diese übernehmen und weiter pflegen. „Civic Tech ist eigentlich ein Teil der Daseinsvorsorge“: Zu dieser zählt der Programmierer Lundelius alles, was kein Geschäftsmodell hat. Das unterscheidet Code for Hamburg von einem Sozialunternehmen oder einem Tech-Startup.

Plattformen und Tools

Die Ziele digitaler Beteiligung sind vielfältig: bessere Informationsbereitstellung über städtebauliche Projekte, breitere Beteiligung, insbesondere für schwer erreichbare Gruppen wie Jugendliche, die Sammlung von Ideen aus der Bürgerschaft oder die Förderung der Zusammenarbeit zwischen Vereinen und Initiativen.

Unterstützt werden diese Prozesse von verschiedenen Tools und Plattformen, die je nach Anwendung auch kombiniert eingesetzt werden. Zumeist als Open Source Source Projekte gestartet sind DIPAS, CONSUL, DECIDIM und Co. heutzutage fester Bestandteil digitaler Teilhabeprozesse in Smart Cities. Doch sind diese Tools natürlich nicht Städten vorbehalten: Vereine und Initiativen weltweit nutzen diese zur Information, Abstimmung und Zusammenarbeit.

Während DECIDIM international u.a in Barcelona, New York, Luzern - und dem Wiener Digigrätzl zum Einsatz kommt, kommt die Hamburger Plattform DIPAS ebendort, sowie in Bremen, Kiel, Leipzig und Haßfurt zum Einsatz. In Spanien (u.a Madrid) und auch lateinamerikanischen Städten wie Montevideo, Guatemala Stadt und La Paz wird CONSUL verwendet. Mit WECHANGE, Dialogzentrale und adhocracy+ stehen weitere Tools zur Verfügung, die in Smart Cities im deutschsprachigen Raum auch zusätzlich oder projektbezogen verwendet werden. Auch die Open Smart City-App ist ein beliebtes Angebot mit eindeutigem Servicecharakter, wie etwa in den Städten Wolfsburg und Dortmund.

Was ist Civic Tech?

Laut Ian Banerjee, Stadt- und Zukunftsforscher werden darunter Open Data, GovTech usw. zusammengefasst: Open-Source-Tools oder Plattformen, die die Zivilgesellschaft bei der Bewältigung von Herausforderungen unterstützen, die von kommerziell orientierten Plattformen nicht angegangen werden. Audrey Tang, ehemalige:r Digitalminster:in von Taiwan, redet von dem

Zweig der Technologie, der es Millionen Menschen ermöglicht, einander zuzuhören, anstatt nur einer Person.

Audrey Tang, ehemalige:r Digitalminister:in, Taiwan
Taipeh

Taiwan: Wenn Hacker an die Macht kommen

In Taiwan haben Civic-Hacker einen großen Einfluss – vor allem die Civic-Tech-Bewegung g0v, die zu den Vorbildern und Kooperationspartnern der Open Knowledge Foundation gehört. Hervorgegangen sind die verschiedenen Gruppen von zivilgesellschaftlichen Hackern aus der Sunflower-Bewegung 2014. Damals besetzten Demonstrierende das Parlament in Taipeh, um gegen ein neues Handelsabkommen mit China zu protestieren. Die alte politische Garde war daraufhin bereit, mit der innovativen Tech-Community zusammenzuarbeiten: Es entstanden mehrere Partizipationsinstrumente, Civic-Hacker:in Audrey Tang wurde Digitalminister:in.

Der Name g0v ersetzt das o durch 0: Das “definiert die Rolle der Regierung von Grund auf neu”, heißt es auf der Webseite der Bewegung. Sie will die bürokratische Regierung herausfordern und eine transparentere und partizipativere Alternative schaffen. Den Anfang machten sie vor Jahren durch eine Übertragung des jährlichen, Hunderte Seiten langen Haushaltsberichts in eine allgemein verständliche, visualisierte Version auf einer Parallel-Domain, die mit g0v.tw endet. Die Budgetvisualisierung wurde später von mehreren Stadtverwaltungen übernommen, unter anderem von Taipeh, wobei die Bürger:innen direkt Fragen zu den Budgetbereichen stellen können.

Die regelmäßigen Hackathons der g0v haben außerdem viele Civic-Tech-Projekte wie Open Campaign Finance, vTaiwan, Cofacts und Disfactory geschaffen. Mit Disfactory werden illegale Fabriken aufgespürt, mit Cofacts Faktenchecks ermöglicht. Die Hacker und die Behörden arbeiten besonders in akuten Krisensituationen gut zusammen: etwa bei Taifunen, Erdbeben oder während der Corona-Pandemie. Die Regierung stellte aktuelle Daten über Schnittstellen zur Verfügung und die Aktivisten bauten Karten und Chatbots, damit die Bevölkerung schnell Ärzte finden, Masken kaufen oder Impftermine buchen konnte. Die Aktivisten füllten dabei nicht nur eine Lücke der öffentlichen Dienstleistungen, sondern wachten auch über der Einhaltung von Privatsphäre und Datenschutz, so Meichun Lee von der Nationalen Wissenschaftsakademie von Taiwan, Academia Sinica.

Mit vTaiwan zum Konsens

Die g0v schuf auch die Beteiligungsplattform vTaiwan, um Beratungsprozesse zwischen Regierung, Bevölkerung und politischen Akteuren zu steuern. Ein Beispiel für einen solchen Prozess ist Uber versus Taxi.

Bei der Beratung kontroverser Themen aus dem digitalen Bereich wandelt ein von der Regierung geförderter Think Tank die Unterlagen in leicht verständliche Sprache um, g0v organisiert Gespräche on- und offline. In Sachen Uber äußerten sich Uber- sowie Taxifahrer:innen, Politiker:innen und Bürger:innen. Am Ende wurde über 145 Meinungen abgestimmt.

Die Meinungsphase kann mehrere Runden umfassen, dabei werden Tools wie Pol.is und Slido genutzt, um einen Konsens zu finden. Mit Pol.is werden z.B. Meinungen in Clustern dargestellt. Da nicht die Mehrheitsmeinung, sondern der gemeinsame Nenner gesucht wird, verändert das laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung auch die Diskussion: Sie wird sachlicher, mehr an Gemeinsamkeit als an Gegensätzen orientiert.

Die Gespräche werden immer live übertragen, alle Aufzeichnungen und Dokumente werden online veröffentlicht. Die Vorschläge, die sich am Ende herauskristallisieren, werden zum Gesetzesentwurf ausgearbeitet.

Der Partzipationsprozess über vTaiwan wurde international viel gelobt, aber auch kritisiert. Die Bertelsmann-Stiftung etwa schreibt, vTaiwan sei “gut für ausgebildete, technikaffine Personen”. Eine weitere Einschränkung sieht Meichun Lee, denn “obwohl hinter vTaiwan eine lebendige Gemeinschaft stand, hing ihr Betrieb stark vom politischen Willen der Behörden ab, Vorschläge zu machen und die Schlussfolgerungen durchzusetzen”, gibt die Forscherin zu bedenken.

Pol.is

Laut Stadtforscher Ian Banerjee ist das Open-Source-Tool Pol.is das Herzstück von vTaiwan. Es dient dazu, Online-Diskussionen zu einem bestimmten Thema zu steuern. Nachdem die Debatte eröffnet ist, kann jeder eine Stellungnahme verfassen, wie mit der genannten Herausforderung umzugehen sei: So wie einst die Bürger der Athener Polis versuchten, die Zuhörer auf der Agora zu überzeugen.

“In Taiwans Pol.is können andere Nutzer entweder ihre eigene Meinung hinzufügen oder einfach auf die Aussagen der Redner antworten, indem sie (...) zustimmen, nicht zustimmen oder ablehnen ankreuzen. Fragen sind nicht erlaubt. Um Trolling, spaltende Kommentare und Provokationen zu vermeiden, gibt es auf der Plattform keine Antwort-Schaltfläche.”

Die Teilnehmenden sehen in Echtzeit, zu welchem Meinungscluster sie gehören: Die beliebtesten Vorschläge gewinnen an Sichtbarkeit. Ein Klick auf “Gemeinsame Meinung” zeigt, welche Meinungen von Personen mit unterschiedlichen Positionen geteilt werden. Das Spiel sei hier, eine gemeinsame Basis, einen “groben Konsens”, zu finden. Die Kritik an der Methode ist, dass die Ergebnisse langweilig sein können.

Können wir hier auch so smart werden?

Ian Banerjee, der über die technologiebasierte demokratische Kultur der Insel forscht, sieht in Taiwan das dynamischste Civic-Tech-Ökosystem der Welt. Das hängt aber auch mit der allgegenwärtigen Bedrohung durch den großen Nachbarn zusammen. Audrey Tang, ehemalige:r Digitalminister:in, wird wie folgt zitiert:

Es wäre unmöglich, die einzigartige taiwanesische Mischung aus gesundem Menschenverstand, Vertrauen in die Behörden und lebendiger Protestkultur direkt auf einen anderen politischen Kontext zu übertragen.

Audrey Tang, ehemalige:r Digitalminister:in, Taiwan

Das Zusammenleben in Städten, und das betrifft 57 Prozent der Weltbevölkerung bzw. 59,53 Prozent der in Österreich lebenden Menschen, ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. In den weltweit populär gewordenen Smart City Strategien stecken mögliche Antworten.

Zugegeben, wir konnten im Team bei Projektstart mit dem Begriff Smart City wenig anfangen, auch hatten die Wiener:innen unter uns zum Teil noch nicht von der Sags Wien App oder den Klimateams gehört. Und auch wenn, waren unsere Vorstellungen über Open Source und Beteiligungsplattformen eher vage.

Gemeinsam haben wir uns dem Thema von verschiedenen Seiten genähert, sozialwissenschaftliche Studien bemüht, zahlreiche Gespräche geführt und eine Fülle an Möglichkeiten kennengelernt, wie mitgestaltet wird. Mit Matilda hatten wir zum Glück eine Expertin an Bord, die uns mit ihrem Verständnis von Technik und Digitalem durch den Plattform-Dschungel navigiert hat.

Naz

Smart City sei ein Heilsversprechen, sagte mir mein Interviewpartner Timo Lundelius: “Hex-hex, wir haben Digitalisierung und KI und keine Staus mehr!” Genau das habe ich mir, ehrlich gesagt, erhofft. Aber so funktionieren die Dinge nicht: Wenn es immer mehr Fahrzeuge pro Kopf gibt, hilft auch die smarteste Technologie nicht und wir stehen weiterhin im Stau.

Bin ich als Technik-Journalistin eine Spur zu technikgläubig gewesen? Ich weiß immerhin, dass Technik unsere Probleme lösen kann – und oft unbeabsichtigt ganz neue schafft. Vielleicht müsste man halt diejenigen fragen, die damit leben (müssen). Dafür gibt es schließlich diese tollen digitalen Tools, die ich bisher selbst kaum kannte. Nutzen wir sie, um gehört zu werden! Man muss dafür nicht gleich programmieren können.

Diese Tools gehören inzwischen zum Standard smarter Städte und sind dafür da, genutzt zu werden. Neben einer digitalen Verwaltung und Datentransparenz ist Beteiligung und Mitbestimmung eines der Kernelemente der modernen Smart City. Ob on- oder offline, sollen sie auch jenen eine Möglichkeit bieten, sich zu beteiligen, die zum Beispiel von Wahlen ausgeschlossen bleiben, hat Naz herausgefunden.

Naz

Wie sehr die jeweilige städtische Kultur in die Auffassung von “smart” mit einfließt, finde ich sehr spannend. Für Wien, und andere Städte auch, wie man ebenfalls in Hamburg sieht, macht Beteiligung etwa einen großen Part aus.

Den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, erscheint mir äußerst klug. Um uns Menschen geht es schließlich auch. Wie wichtig es ist, dass die Bevölkerung mit an Bord ist, das ist mir nach dieser Recherche einmal mehr bewusst geworden. Und da, denke ich, liegt noch immer die größte Herausforderung von smarten Städten und vor allem der Beteiligung. All diese Sachen sollten, besser gesagt, müssen alle Bevölkerungsgruppen erreichen.

Beteiligen sollten sich vor allem jene, die sonst weniger Mitspracherecht haben. Online Möglichkeiten sind super, aber auch analog sozialisierte Menschen sollten nicht außen vor gelassen werden: Was hat man schließlich von den tollsten und smartesten Lösungen, wenn Menschen nichts davon mitkriegen und sie nicht nutzen?

Gut, dass genau an diesen Punkten ohnehin versucht wird zu arbeiten. Smarte Konzepte sollten ständig ausverhandeln, was gut ist, was funktioniert. Etwas komplett Statisches, das ist die Demokratie ja auch nicht.

Wien ist 2024/2025 von knapp 4.000 Bürger:innen aus 47 Ländern des Europarats (und Kosovo) zur "Europäischen Demokratiehauptstadt" gewählt worden - und lädt, wie sollte es anders sein, alle ein, sich zu beteiligen. Die Stadt nimmt den Titel auch zum Anlass, den “Ausbau von Beteiligungsmöglichkeiten für Wiener:innen” (weiter) voranzutreiben. Im Programm, das im Oktober 2024 startet, werden unter anderem die Präsentation der Beteiligungsformate (und nein, wir haben nicht alle erwähnt: Wiener Klimateam, das Kulturlabor im Gemeindebau, die Partizipative Kinder- und Jugendmillion sowie der Kund:innen-Rat des Fonds Soziales Wien) sowie neue, innovative Veranstaltungsformate angekündigt.

Wer sich betroffen fühlt und über die nötigen Ressourcen verfügt, beteiligt sich am ehesten - darin sind sich unsere Interviewpartner:innen einig. Beteiligung und Mitsprache kommen dann zustande, wenn die, die es betrifft, auch davon wissen, wo es gilt, sich einzumischen, mitzumischen, zu vermischen oder auch aufzumischen- und bestenfalls in der Position sind, dies auch digital zu tun: Smart ist nur gemeinsam smart.

Apropos Teilhabe: Nach all den Geschichten und Erläuterungen nun aber zu den wichtigsten dieses Textes, zu Euch, liebe Leserinnen, liebe Leser, zu Ihnen, verehrtes Publikum! Was denken Sie über partizipative Projekte? Habt Ihr selbst bei einem mitgestaltet? Erzählungen und Erfahrungen von allen sind herzlich willkommen!

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Team

Nina Schnider

Projektleitung

Indra Jäger

Chefredaktion

Naz Kücüktekin

Recherche, Drehbuch "Beteiligungsprojekte in der Smart City Wien"

Matilda Jordanova-Duda

Recherche, Drehbuch, “Globale Smart City Beispiele und digitale Plattformen"

Christina Krakovsky

Wissenschaftliche Begleitung, Texte: “Smart City Index”, “Wo beginnt Partizipation”, “Wie Partizipation das Rückgrat oder Schafott für Demokratie sein kann”

Jona Hoier

Drehbuch, visuelles Konzept, Programmierung

Irma Tulek

visuelles Konzept

Anna Hazod

Illustrationen

Fiona Walatscher

Tabellen, Animationen, Social Media

Dr. Sabine Haydl

Lektorat

Gefördert durch die Wirtschaftsagentur Wien. Ein Fonds der Stadt Wien

Bild-Credits

  • Illustrationen von Anna Hazod
  • Alterlaa © Thomas Ledl, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
  • Bootssteg in Ahaus ©Tobit
  • Hofladen Bertas Eiland ©Tobit
  • Disko "Next" ©Tobit
  • Kaufhaus Eingang ©Tobit
  • 24/7-Supermarkt ©Tobit
  • Gaswerkpark Familienfest © Martin Votava
  • Grätzelwerkstatt © Christian Fürthner
  • Bürger:innen Jury © Christian Fürthner
  • Hamburg Hafencity © iStock, Canetti
  • Dipas online ©BSW & Joseph Pearson, Unsplash
  • 3D-Modell ©LGV
  • Touchtable © Walter Schießwohl
  • Screenshot "Wir machen Wien"
  • Digigrätzl © digigraetzl.at
  • Taipeh von Timo Volz
  • Parlament Taiwan Kevin-WY from Taichung, Taiwan - IMG_5968, CC BY-SA 2.0, Link
  • Screenshot Webseite https://budget.g0v.tw/budget
  • g0v hackathon 11, CC BY-SA 2.0 g0v.tw 零時政府

Quellen und weiterführende Links

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