Hamburg: Bürgerbeteiligung mit Tablet, Touchtable und Datenbrille
Offene Verwaltungsdaten, modernste digitale Bürgerbeteiligung- wie Hamburg und seine technikaffinen Bürger:innen Planungsprozesse aushandeln.

Die Ära der Amtsgeheimnisse endete in Hamburg im Jahr 2014. Damals entstand das Transparenzportal für öffentliche Verwaltungsdaten, auch auf Druck von technikaffinen zivilgesellschaftlichen Bewegungen wie Code for Germany und ihrem lokalen Zweig Code for Hamburg. Deren Prinzip lautet:
Wenn die öffentliche Hand Geld ausgibt, müssen die Ergebnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.
Diese neue Transparenz hatte konkrete Folgen für die Bürgerbeteiligung. Wenn in Hamburg Bürgerinnen und Bürger über städtische Vorhaben und private Bauprojekte abstimmen, hängen heute meist nicht einfach ein paar gedruckte Baupläne an der Wand. Die Beteiligungsplattform DIPAS (Digitales Partizipationssystem) arbeitet mit interaktiven Karten, digitalen Tischen und jeder Menge öffentlich verfügbarer Daten. Über DIPAS kann man sich rund um die Uhr und von überall her einbringen oder aber sich vor Ort informieren.
Etwa über die fehlenden Fahrradbügel in Hamburg-Altona: eines von rund 20 Beteiligungsverfahren in diesem Stadtteil. Wo braucht es insgesamt mehr Bügel, wo speziell solche für Kinder- und Lastenräder? Darüber konnten Bürger:innen vier Wochen lang über die Beteiligungsplattform abstimmen.
Auf einer interaktiven Karte von Altona sieht man auf einen Blick, dass Einträge sich an ein paar neuralgischen Stellen clustern, während an anderen Orten wohl kaum Bedarf besteht. Auch die Kommentare dazu sind sachlich: „Im Büro sind wir acht Leute, die regelmäßig mit dem Rad fahren. Die Bügel gegenüber bei Netto sind immer schon belegt“, heißt es dort zur Begründung oder dass Eltern bei den Sporthallen ihre Kinder mit dem Rad bringen und abholen würden. Möglich ist es auch, bereits markierte Straßenbereiche zu liken, statt einen eigenen Beitrag dazu abzusetzen.
Intensiv wurde auch das Zukunftsbild der Hamburger Innenstadt auf der Plattform diskutiert. Trotz kaufkräftiger Bevölkerung stehen inzwischen zu viele Läden in zentraler Lage leer. Die Teilnehmenden regten beispielsweise einen gemeinsamen Bringdienst für den Einzelhandel als Alternative zum Online-Shopping an. Andere wollten verkehrsberuhigte Flächen zum Kaffeetrinken und Verweilen sowie Förderung für Initiativen, die Tauschbörsen, Reparatur, Recycling oder fair gehandelte Waren anbieten. Mehr Kultur und bezahlbares Wohnen in der Innenstadt sind ebenfalls erwünscht.

Über 120 Verfahren in acht Jahren
Hamburg ist ein Stadtstaat: zugleich Bundesland und eine Gemeinde mit 1,9 Mio. Einwohner:innen und über 100 Stadtteilen, einschließlich der Nordsee-Insel Neuwerk. Die Elbmetropole hat eine lange Tradition als Stadtrepublik mit einem selbstbewussten Bürgertum und einer ziemlich regen Bürgerbeteiligung. Einer Gruppe von Aktivisten („Komm in die Gänge“) gelang es sogar, historische Häuser im Gängeviertel vor dem Abriss zu retten, die Stadt dazu zu bringen, den Verkauf der Fläche an einen Investor rückabzuwickeln und die Sanierung der Gebäude zu fördern. Heute ist das Gängeviertel ein Kunst- und Kulturstandort.
Die Plattform DIPAS, über welche die Hansestadt Bürgerbeteiligung online und offline organisiert, nutzt Geodaten, Luftbilder, Baupläne und seit kurzem auch digitale Zwillinge, um genau lokalisiertes Feedback zu Planungsvorhaben zu erhalten. Digitale Zwillinge nennt man die 3D-Modelle von Bauwerken, die idealerweise alle technischen und Betriebsdaten beinhalten. Entwickelt wurde die Plattform 2016 mit Hilfe der Hafen City Universität (HCU) bzw. ihres City Science Labs. Seitdem wurden über 120 Verfahren mit knapp 51 500 Beiträgen durchgeführt.

Mobilitätswende mobilisiert am meisten
Auf DIPAS navigator werden alle Verfahren tagesaktuell dargestellt. Interessierte können nachlesen, wo, wann und zu welchen Themen Beteiligung schon stattgefunden hat, was zum Mitmachen gerade offen ist und wann Termine vor Ort anstehen. Auch die übergeordneten Statistiken sind auf der Seite zu finden: Der städtischen Mobilitätswende geschuldet, befassen sich die meisten Verfahren mit Mobilität und öffentlichem Raum.
„Die Beteiligung ist offen für alle und anonym. Es ist keine Anmeldung erforderlich“, schildert Claudius Lieven, DIPAS-Projektleiter bei der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen. Theoretisch könnten auch Leute von außerhalb schreiben und liken, aber meist seien es die unmittelbar Betroffenen. „Es sind Menschen, die die Gegebenheiten vor Ort kennen“, das merke man an den Beiträgen. Die Verfahren können ganz kleinteilig sein und lediglich einen Bahnhof-Vorplatz, eine Grünanlage, einen Fuß- oder Radweg betreffen. Oder aber die ganze Stadt: z.B. das Lärmkonzept für Hamburg.
Entsprechend breit streut die Beteiligung, erzählt Lieven: 50 Beiträge zur Neugestaltung eines Spielplatzes und mehrere Tausend beim Leitbild für die Innenstadt.
Kleines Thema – kleines Feedback, großes Thema – großes Feedback.
Einen Zusammenhang sieht er auch zwischen der Art der Fragestellung und der Anzahl der Rückmeldungen. Unter einem „Mobilitätshub“ können sich die meisten Menschen nichts vorstellen. Unter einer “Station mit Carsharing, Rad- und Roller-Verleih, Park- und Lademöglichkeiten” schon eher. „Da ist es an uns, die Fachkollegen entsprechend zu beraten.”
Es sei ein selbstselektives und kein repräsentatives Verfahren, betont Lieven. Es äußerten sich vor allem diejenigen, die sich für das Thema erwärmen – „aber zu einer Bürgerversammlung gehen auch nur die, die sich dafür interessieren“. Cookies und andere Vorrichtungen sollen verhindern, dass manche sich übermäßig oft beteiligen, doch mit einigem Aufwand ließen sich die Hürden umgehen.
Hybride Verfahren
Die knapp zwei Millionen Hamburger:innen sind nach DIPAS-Angaben zu über 90 Prozent Onliner: Technische Hürden sieht Lieven für Online-Beteiligungen deshalb keine. Diese sind zeit- und ortsunabhängig, daher können weitere Bevölkerungsgruppen aktiviert werden: die Berufstätigen, die Eltern mit kleinen Kindern, die in ihrer Mobilität Eingeschränkten, wie auch diejenigen, die sich nicht gern vor Publikum äußern würden. Geplant ist, die Nutzung in mehreren Sprachen mittels einer automatischen Übersetzungsfunktion zu ermöglichen.
Wir empfehlen aber in der Regel hybride Verfahren: Manches vermittelt sich live face-to-face besser.
Bei einer Kick-off-Veranstaltung im Gemeindezentrum werden der Plan und die Gestaltungsspielräume vorgestellt und mitgeteilt, dass es danach die Möglichkeit gibt, innerhalb bestimmter Fristen online Wünsche zu äußern. „Danach bekommen wir meist Berge von Feedback“, sagt Lieven. Angekündigt werden die Kick-off-Veranstaltungen in den klassischen und den sozialen Medien sowie auf Plakaten. Auf den Plakaten ist ein QR-Code aufgedruckt: Per Smartphone landet man direkt beim konkreten Abstimmungsverfahren.

Bei den Vor-Ort-Workshops stellt die Behörde oft digitale Tische (Touchtables) auf, um die Änderungen zu veranschaulichen. „Wir haben in Hamburg sehr viele Karten digitalisiert. So kann man z.B. sehen, wie das neue siebenstöckige Gebäude die umliegenden niedrigeren Wohnblocks verschatten wird, den Lärm vom Spielplatz oder die Windströmungen um die Ecke simulieren. Die Vision des City Science Labs ist es, künftig die Bürger:innen mit Hilfe von Virtual- bzw. Augmented Reality den neuen Entwurf schon im Voraus kreieren und erkunden zu lassen.
Die Verbindung mit den Geodaten und Digitalen Zwillingen ist eine Besonderheit von DIPAS, denn es ist nicht die einzige Beteiligungsplattform. In Deutschland und auch international werden mehrere andere genutzt. “Unsere Stärke liegt in der raumbezogenen Beteiligung, etwa bei Bauvorhaben, Straßenplanungen und Freiraumgestaltung. Das kommt daher, dass wir DIPAS in einer Planungsbehörde, ganz nah an diesen Einsatzgebieten entwickelt haben”, so Lieven. Demnächst soll aber auch die textbasierte Beteiligung ausgebaut werden: “Wir wollen erreichen, dass auch Dokumente gut kollaborativ bearbeitet werden können“.
Was geschieht mit den Bürgerwünschen?
Entschieden wird von legitimierten Gremien: Im Bundesland Hamburg sind das die kommunalen Parlamente der sieben Bezirke. „Wir versprechen nicht, dass alles, was aufgeschrieben wurde, auch so umgesetzt wird. Es geht um die Aufdeckung von Belangen, die sonst vielleicht übersehen werden, denn die Bürger wissen am besten, wie die Situation in ihrer Straße Tag und Nacht, sommers wie winters ist“, betont Lieven. Besonders bei Themen mit absehbarem Diskussionsbedarf lohne es sich, von vornherein einen Gesprächskanal zu eröffnen und nicht erst, wenn es böse Briefe hagelt. Wichtig sei aber auch zu begründen, was aufgrund von Kosten oder gesetzlichen Regelungen nicht realisierbar sei.
Es sind Meinungsbilder. Daraus werden nicht direkt Entscheidungen abgeleitet.
„Mittlerweile sind wir bei der Version 3.0. Unser größtes Problem ist, die ganzen Beiträge zu erfassen und zu verarbeiten. Deswegen entwickeln wir KI-Instrumente für die Auswertung. Teil der Philosophie ist: Die Sachen bleiben online.“ Stadtplanung dauert lange, oft mehr als ein Jahrzehnt. Am Ende tauche die Frage auf: Warum wurde es damals so und nicht anders gemacht? „Wir sind gebunden an Entscheidungen, die vor Jahren getroffen wurden“. Deshalb sei es wichtig, die gesamte Diskussion zu dokumentieren und für immer zugänglich zu machen.
DIPAS ist Open-Source und wurde unter GNU General Public License (GPL Lizenz) für freie Software im Februar 2021 anderen Städten, Institutionen und Forschungseinrichtungen zum Installieren und Mitentwickeln zur Verfügung gestellt. München, Bremen, Kiel, Leipzig und Haßfurt tun es bereits (Anwender Community) und tauschen sich aus. „Vorteil einer Plattform ist: Bürger und Verwaltung gewöhnen sich daran“, so Lieven.
Es brauche eine Serverinfrastruktur, verfügbare Geodaten, kompetente Administratoren – und wer das nicht hat, könne beim IT-Dienstleister für die öffentliche Verwaltung Dataport auch „DIPAS as a service“ kaufen. Man bezahlt ein Einzelbeteiligungsverfahren oder eine Jahrespauschale von rund 37 000 Euro. Ab sieben Verfahren pro Jahr lohnt sich der Aufwand, meint Lieven: Das Potenzial habe schon eine mittelgroße Stadt. Pionier Haßfurt hat gerade mal um die 14 000 Einwohner:innen.
Dieser Text ist ein Ausschnitt aus unserem Longread: Gemeinsam smart- Wie gestalten Bürger:innen die Städte von Morgen?
Wien, Ahaus, Hamburg, Taipeh – Im städtischen Raum wird digitale Demokratie großgeschrieben. Wir haben uns angeschaut, wie die Beteiligung im digitalen Zeitalter der Smart Cities funktioniert.
Quellen und Linkstipps
- Code for Hamburg Lab
- Code for Germany
- Code for all
- Open Knowledge (OK)Foundation.
- Forum Offene Stadt
- Transparenzportal für öffentliche Verwaltungsdaten
- DIPAS (Digitales Partizipationssystem)
- Touchtables
- City Science Labs
- Fahrradparken Altona
- Lärmkonzept Hamburg
- Gängeviertel
- Civic Tech Field Guide
- Examples of collaboration between civic tech communities and governments around the world
Titelbild: DIPAS ©Walter Schiesswohl
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