Radikalisierung auf Tiktok: Apfelschorle haram, Schule schwänzen halal

Auf der Plattform Tiktok erreichen islamistische Prediger Hunderttausende junge Muslime mit radikalen, antidemokratischen Botschaften. Ein Theologe und eine Moschee kämpfen dagegen an.

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Es ist schon später Nachmittag in der Arrahman-Moschee in Münster. Zehn Jugendliche, 14 bis 16 Jahre alt, haben sich im Schneidersitz um den Gruppenleiter Hamza Mussa versammelt. Beim wöchentlichen Jugendtreff vermittelt er den Teenagern Koranverse, Hadithe und Prophetengeschichte.

Doch der Teufel kann überall sitzen, auch in einer Moschee. Als ein schmaler Lichtstreifen durch das Fenster auf den türkisen Teppichboden und die linke Seite eines Rückens fällt, steht der vom Lichtstrahl getroffene Junge abrupt auf und wechselt seinen Platz.

Gruppenleiter Mussa ist sich nicht sicher, wie er das finden soll. Der Junge hat den Unterricht unterbrochen, andererseits kennt er offensichtlich die Regeln seiner Religion. Einem „Hadith“, einer Überlieferung zufolge soll der Prophet Mohammed gesagt haben, dass sich der Sitzplatz des Teufels zwischen Sonne und Schatten befindet. Fromme Muslime sollen deshalb den Halbschatten meiden.

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Hamza Mussa, 24, Jugendgruppenleiter in der Arrahman-Moschee in Münster. © Nikolaus Urban

Wer sich an die islamischen Lehren hält, der werde im Paradies belohnt, sagt Mussa selbst. Er ist selbst noch jung, 24 Jahre alt, das Gottesverständnis, das er an seine Schützlinge vermittelt, ist konservativ. Doch manchmal wird der Eifer der Jugendlichen auch ihm zu viel.

Die coolen Kumpel von der Straße

Sie zeigen Mussa auf ihren Smartphones Videos, wo Männer mit Bart seltsame Botschaften über den Islam verbreiten. Dass die Apfelschorle in der Moschee haram ist, hört man da, weil sich darin Schweinegelatine befinden soll. Dass Schulschwänzen erlaubt sei, um das Freitagsgebet zu halten. Oder dass man als Muslim mit Christen und Juden nicht befreundet sein kann. „Stimmt das?“, fragen die Teenager, bestrebt, gute Muslime zu sein.

Neun von zehn Videos, die sich auf der Plattform Tiktok mit dem Islam beschäftigen, verbreiten radikale Inhalte, schätzt Mouhanad Khorchide, der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie in Münster. Das Institut forscht in erster Linie zu theologischen Fragen, führt daneben aber auch empirische Studien zu extremistischen Einstellungen durch. Tiktok, so bestätigt man am Institut, ist der neue Motor der Radikalisierung – und erreicht immer jüngere Zielgruppen. Kinder ab 11 Jahren seien betroffen.

Die großen Namen der deutschsprachigen Szene sind Abdelhamid, Sheikh Ibrahim, und Abul Baraa. Auch salafistische Konvertiten mischen mit, wie Pierre Vogel oder Marcel Krass. Ihre Reichweite ist enorm, allein Abdelhamid folgen auf Instagram über 200.000 Menschen.

Glaubt man den „Tiktok-Gelehrten“, wie Mussa sie abfällig nennt, dann gibt es im deutschen Alltag nur wenig, was halal ist. Das Leben eines deutschen Muslims ist ein endloser Hürdenlauf. Hier die guten Muslime, dort der böse Westen, mit seinen Versuchungen, seinem moralischen Verfall, seinem Islamhass. Ein gottgefälliges Leben ist nur in einer isolierten, von der Mehrheitsgesellschaft klar abgegrenzten Welt möglich. Wer integriert lebt, riskiert, zum Ungläubigen zu werden.

Die Endstation dieser Dynamik kennt man aus den Schlagzeilen: Insbesondere NRW steht laut dem „Lagebild Islamismus 2024“ im Fokus der Dschihadisten. Die Zahl islamistisch motivierter Straftaten hat sich im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr von 60 auf 305 mehr als verfünffacht.

„Wer von euch nutzt Tiktok? Oder besser: Wer nutzt kein Tiktok?“

Bevor die Runde mit Hamza Mussa mit Eisessen und Werwolf-Spielen ausklingt, ist Yaseen Al-Murish dazugestoßen. Er ist 35 Jahre alt und leitet in der Arrahman-Moschee die Jugendarbeit. Als von elf Jugendlichen nur drei ihre Hand heben, fragt er sie: Warum nutzt ihr kein Tiktok?

Die Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen.

„Weil Tiktok dumm macht.“

„Weil es süchtig macht.“

„Weil man da nur Schrott sieht.“

Die Tiktok-Nutzer in der Runde erzählen, dass sie einerseits von Muslimen gemachten Accounts folgen, damit sie keine Inhalte sehen, die für Muslime „schlecht“ sind. Andererseits versuchen sie, religiöse Inhalte zu meiden, weil man da so viel Komisches über den Islam höre. Dass die deutsche Schule ungläubig macht, predigt einer. Dass man Frauen schlagen darf, predigt ein anderer. Und doch spüle ihnen der Algorithmus immer wieder die Videos dieser bärtigen Prediger auf den Bildschirm.

“Wo fragst du, wenn dir etwas merkwürdig vorkommt?“, fragt Yaseen.

Die Antwort kommt prompt: „Ich gebe den Hadith auf Google ein und schaue, ob er bei Al-Bukhari vorkommt.“ Al-Bukhari ist die kanonische Sammlung der wichtigsten, als authentisch geltenden Hadithe.

„Und wenn ihr auf Google keine Antwort findet?“

„Dann fragen wir auf Tiktok! Nein Spaß – wir fragen in der Moschee.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Yaseen mit den Jungs das Thema Tiktok reflektiert. Er und andere Moschee-Mitarbeiter, insbesondere der Imam, übernehmen für die Jugendlichen die Funktion eines Faktenchecks.

Erst seit Corona, berichtet er, ist das Phänomen richtig groß geworden. Die Fragen, denen sich die Tiktok-Scheichs widmen, seien teilweise richtig absurd, zum Beispiel: „Darf ein Muslim Albaner sein?“ oder „Darf man sich über Leute, die in die Hölle gehen werden, mit Loser-Dance lustig machen?“

Sonnenbrille, Baseballcap und Basketball-Trikot

Je aufsehenerregender der Thumbnail, desto größer die Reichweite – die Islamisten haben das verstanden. Auch mit dem Klischee rückständiger Hassprediger haben die Tiktok-Prediger längst aufgeräumt. Während sie von einem Kampf des Westens gegen die muslimische Welt sprechen, tragen sie Sonnenbrille, Baseballcap und Basketball-Trikot. Sie wirken wie der coole Kumpel von der Straße.

„Von den muslimischen Jugendlichen, die ihren Glauben praktizieren, kommt nur ein Bruchteil in die Moschee. Der Rest informiert sich online über die Religion“, sagt Yaseen. Es fängt an, indem sie einen bärtigen Mann hören, der eloquent spricht und seine Sätze mit „Der Prophet sagt“ und „Der Islam sagt“ beginnt. Wer dann mehrere Jahre einem solchen „Tiktok-Scheich“ folgt, dem könne man nicht mehr so einfach sein Vorbild kaputtmachen – diese Jugendlichen sind nachhaltig indoktriniert.

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Yaseen Al-Murish ist der Leiter der Jugendarbeit in der Arrahman-Moschee. © Nikolaus Urban

Im obersten Geschoss eines renovierungsbedürftigen Universitäts-Gebäudes im Münster-Süd hat Mouhanad Khorchide, der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie, sein Büro. Buchrücken mit arabischen Schriftzeichen füllen zwei übervolle Bücherwände, der Raum strahlt eine belesene Gemütlichkeit aus. Hier forscht Khorchide gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Abdulkerim Şenel zur Frage, was den Erfolg der extremistischen Influencer ausmacht – und was man dagegen tun kann.

Eine wichtige Erkenntnis: Salafisten sind längst nicht mehr die einzigen, die es auf muslimische Jugendlichen abgesehen haben. Auch Plattformen wie „Muslim Interaktiv“, „Realität Islam“ oder „Generation Islam“ erreichen Hunderttausende Jugendliche. Die frommen Predigten überlassen sie den Salafisten und kümmern sich stattdessen um Politik.

Der moralisch verkommene Westen

Die Accounts kritisieren Islamfeindlichkeit bei der deutschen Polizei, berichten über rassistische Übergriffe in deutschen Städten und verurteilen Israels Gaza-Krieg als Genozid. Doch unter dem Deckmantel von Rassismus- und Imperialismus-Kritik geht es in Wirklichkeit um etwas anderes. Hinter den Accounts stehen Anhänger der Hizb-ut Tahrir, einer in Deutschland verbotenen islamistischen Organisation. Ihr Ziel ist es, ein weltweites Kalifat zu errichten. Und obwohl sie nur wenige Hundert aktive Mitglieder zählt, beeinflusst sie den Diskurs weit über ihre Kreise hinaus.

Die Beiträge folgen einem Muster: Erst wird der moralisch verkommene Westen angeprangert, Demokratie und Menschenrechte als Heuchelei diskreditiert. Dann wird ihm die islamische Welt entgegengestellt. Der Westen als Täter, die Muslime als unschuldige Opfer, ein unvereinbarer Gegensatz.

Das verfängt bei vielen. Während die Salafisten diejenigen erreichen, die sich zum Islam informieren wollen, spricht die Hizb-ut Tahrid mit ihrer Ideologie auch diejenigen an, die nicht unbedingt an religiösen Themen interessiert sind, in Deutschland aber Diskriminierung erfahren haben und sich im Westen nicht zuhause fühlen. Für sie sind die selbstbewussten Redner in den Videos Vorbilder. Da traut sich endlich einer, dem Westen Paroli zu bieten. Man will auch so stark, so cool sein. Religion ist dann weniger eine Frage des Glaubens, sondern der Identität.

Es klingt düster: Ähnlich wie die Rechtsextremen feiern auch die Islamisten gerade einen Siegeszug durch die sozialen Medien. Doch Mouhanad Khorchide glaubt an ein Gegenmittel.

Was die Menschen radikalisiert, ist nicht ein restriktives Islam-Verständnis, sondern der Gedanke, dass der Westen der Feind ist.

Positive Gegenerzählungen

Der Einfluss der Tiktok-Fundamentalisten, so glaubt der Theologe, lässt sich brechen, wenn es gelingt, ihrem Narrativ eine andere Erzählung entgegenzusetzen. Sie soll eine offene Gesellschaft abbilden, in der alle ihren Platz finden, aber ohne existierende Probleme zu verschweigen.

Wie das geht, soll ein Projekt zeigen, das gerade in Planung ist. Dort werden junge Musliminnen und Muslime in kurzen Videos ihre Geschichten erzählen. Zum Beispiel davon, wie sie in Deutschland eine Heimat gefunden haben, in der sie sich frei entfalten können. Kritik am Westen, an seinen doppelten Standards insbesondere in der Außenpolitik, will Khorchide nicht aussparen. Sie soll aber konstruktiv sein. Entscheidend sei es, auf Pauschalaussagen zu verzichten. „Den Westen oder aktuell Israel pauschal als böse hinzustellen, ist genauso dumm wie die Aussage, dass alle Muslime Islamisten sind“, sagt Khorchide.

Eine positive Gegenerzählung, das ist auch Yaseen Al-Murishs Lebensgeschichte. Seine Schützlinge in der Moschee kennen sie. 2009 kam er als Student nach Deutschland, knapp zwei Jahre später, während des Arabischen Frühlings, erlebte er, wie die Revolution in seiner Heimat von den bewaffneten Huthi-Rebellen gekapert wurde. Er verlor die Hoffnung, zu Lebzeiten in ein demokratisches Yemen zurückzukehren. Geblieben ist die Überzeugung, dass jede politische Veränderung zuerst als kultureller Wandel in den Köpfen stattfinden muss.

Prof. Dr. Mouhanad Khorchide ist Leiter des Zentrums für Islamische Theologie. © Nikolaus Urban

Mit gutem Beispiel vorangehen

Yaseen Al-Murish schätzt es, heute in einem Land zu leben, wo dieser Wandel bereits stattgefunden habe, wo der Respekt vor Gesetzen und Mitmenschen in den meisten Köpfen tief verankert sei. Das, so sagt er, mache auch den Kern seiner Religion aus:

Im Yemen glauben die Menschen an den Islam, aber umgesetzt werden seine Werte in Europa.

Yaseen will seinen Beitrag leisten, dass weder die Rechten noch die Islamisten dieses Erbe zunichtemachen.

Ob seine Moschee auf Tiktok vertreten ist?

Nein, sagt Yaseen, das nicht. All diese radikalen Influencer und mittendrin auch seine Moschee? Das könne er sich nicht vorstellen.

Wie die Arrahman-Moschee, sind die allermeisten Moscheen in Deutschland den Wandel noch nicht mitgegangen. Dabei wären gerade sie unverzichtbar, um den Online-Predigern Einhalt zu gebieten.

Das ist Mouhanad Khorchides größte Hoffnung. Wenn sein Pilotprojekt einige Moscheegemeinden animieren kann, ihre Scheu vor den sozialen Medien abzulegen, wäre das ein Meilenstein der Extremismus-Prävention. Hin und wieder will sich Khorchide auch selbst vor die Kamera stellen, als Theologe, der einen aufgeschlossenen Islam aus Koran und Sunna – der islamischen Überlieferung – heraus begründet. Einer muss ja mit gutem Beispiel vorangehen.

Titelbild: © Nikolaus Urban


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