Neue Imame braucht das Land

In österreichischen Moscheen predigen Imame aus dem Ausland, viele sprechen kein Deutsch. Kann eine inländische Imam-Ausbildung das Problem lösen? Deutschland hat das Modell als Pilotprojekt versucht – und baut es jetzt aus.

Der besprochene Vers erweist sich als Prophezeiung. Es geht um Sure 3:19, sie handelt vom Zwist unter den Gläubigen. Und tatsächlich: Als Imam Ender Cetin seine Koraninterpretation für Fragen und Anmerkungen öffnet, endet der Abend im Streit. 

Eine ältere Frau im Publikum, wohl um die 80 Jahre, sieht den Vers als Anspielung auf Extremisten, die die Religion politisch vereinnahmen. „Wie nennt man diese Leute? Die sind so etwas wie islamische Rassisten“, sagt die Frau. „Sie meinen wohl Islamisten?“, ergänzt der Imam. 

Auf diese Worte erhebt sich heftiger Widerspruch. „Immer dieses Unwort: Islamismus! Warum gibt es kein vergleichbares Wort für christliche Extremisten?“, sagt eine Frau mit Kopftuch. Im Publikum springt ihr jemand bei: „Wenn man von islamischem Fundamentalismus spricht, ist das für mich okay. Aber von ‚Islam‘ zu ‚Islamismus‘ ist es nicht weit – damit assoziiert man uns mit Terroristen, ich finde das als Muslimin verletzend.“

Nicht alle im Publikum sind einverstanden. Man solle sich nicht auf Begrifflichkeiten versteifen, sondern das Problem an sich angehen. Imam Ender Cetin versucht einen Mittelweg:

Die Extremisten nehmen uns die Begriffe weg. Auch das Wort ‚Jihad‘ wird heute mit Terrorismus verbunden. Wir müssen die Konzepte unserer Religion von den Extremisten zurückerobern, indem wir sie wieder positiv besetzen.

Imam Ender Cetin

Meilenstein für Integration?!

Wir befinden uns an der Deutschen Islam Akademie in Berlin. Der Raum in einem Hinterhofgebäude in Berlin Mitte strahlt mit orientalisch gepolsterten Sitzecken und einem Teetisch Gemütlichkeit aus. Ender Cetin interpretiert hier jeden Donnerstag Koranverse zu einem wechselnden Schwerpunktthema. Er ist einer von 26 Musliminnen und Muslimen, die im vergangenen September am Islamkolleg Deutschland in Osnabrück ihr Diplom erhalten haben. Ein fast schon historischer Moment: die allerersten in Deutschland ausgebildeten Imaminnen und Imame. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser nannte es einen „Meilenstein für die Integration“.

Warum die Imame so wichtig sind, erklärt sich durch ihre historische Rolle in den Moscheegemeinden. Sie sind für die Gläubigen nicht nur Vorbeter, sondern auch Anlaufstelle bei Fragen und Zweifeln aller Art. Im Islam gibt es keine zentrale Autorität wie die Kirche. Wer beispielsweise wissen will, ob es gottgefällig ist, einer Frau die Hand zu schütteln oder nicht-muslimische Freunde zu haben, wendet sich deshalb als erstes an den Imam seiner Gemeinde. Die Imame sind die Brücke zwischen Theologie und Alltagsleben, sie sind Seelsorger, Berater, Mentoren und Prediger in einer Person – und haben deshalb großen Einfluss auf die Gläubigen.

Doch bis jetzt waren in den etwa 2500 deutschen Moscheen fast ausschließlich Imame aktiv, die im Ausland ausgebildet wurden und meistens auch dort aufgewachsen sind. Das bringt Nachteile für alle Beteiligten: Die Imame kennen die Lebensrealität der Gläubigen kaum, oft sprechen sie nicht einmal dieselbe Sprache. Das betrifft auch die Werte, welche die Imame aus dem Ausland vermitteln. Teilweise sind sie sehr traditionell und mit dem Leben in Deutschland und Österreich schwer vereinbar. Im schlimmsten Fall richten sie sich gegen Demokratie, Gleichberechtigung und Pluralismus. 

Das Problem betrifft auch andere europäische Länder. Sie verfolgen deshalb sehr genau, wie sich das Projekt in Deutschland entwickelt – nicht zuletzt, weil sich die europäische Integrationsdebatte mit dem Nahostkonflikt verschärft hat. Die Erwartungen an die neuen Imame sind hoch. Und nicht ganz unpolitisch: Sind sie die Brückenbauer, die wir jetzt brauchen? Was wollen sie, wofür stehen sie? Und werden sie von den muslimischen Gemeinden überhaupt akzeptiert? 

Imame in der Zwickmühle

In der muslimischen Community in Berlin genießt Imam Ender Cetin schon eine gewisse Bekanntheit. Abgesehen von einem weißen Streifen an seinem Kinnbart, sieht man ihm seine 47 Jahre kaum an. Er wirkt wie der coole junge Lehrer, den man sich in der Schule immer gewünscht hat, witzig, auf Augenhöhe. Den Respekt bei den Gläubigen verdient er sich nicht durch Unnahbarkeit, sondern durch Wissen und Schlagfertigkeit. Tatsächlich sind seine Koraninterpretationen auch Geschichtsstunde und Philosophie-Seminar, er zitiert immer wieder nicht-muslimische Denker, wie Goethe und Max Weber. 

Imam Ender Cetin
Imam Ender Cetin ist einer von 26 Musliminnen und Muslimen, die im vergangenen September am Islamkolleg Deutschland in Osnabrück ihr Diplom erhalten haben. (c) Privat

Cetin ist viel unterwegs, in den Gefängnissen als muslimischer Seelsorger, an den Schulen mit einem jüdischen Rabbinerkollegen im Rahmen des Projekts „meet2respect“. Vor allem jetzt ist die Nachfrage nach solchen Initiativen hoch. „Was mir danach noch als Freizeit bleibt, verbringe ich mit meiner Familie“, sagt Cetin, „es ist zurzeit leider nicht viel.“

Als er zum Interview kommt, ist er verspätet. Er entschuldigt sich, erklärt, er komme direkt aus dem Bundestag. Dort hat er sich gemeinsam mit anderen Imamen mit Vertretern der deutschen Politik getroffen, um die Sorgen und Probleme in der muslimischen Community darzulegen. Gerade herrscht Krisenstimmung.

Das beispiellose Ausmaß der Zerstörung in Gaza befeuert auch unter den hier lebenden Musliminnen und Muslimen den Antisemitismus. Dass Deutschland trotz der humanitären Katastrophe Israel noch immer bedingungslos unterstützt, können viele nicht verstehen. Eine antiwestliche Haltung ist die Folge. Laut Umfragen waren antisemitische Einstellungen unter Musliminnen und Muslimen schon vor dem 7. Oktober 2023 doppelt so verbreitet wie im Rest der Bevölkerung. 

Doch Antisemitismus ist nicht das einzige Problem. Denen, die sich für Verständigung und Ausgewogenheit einsetzen, schlägt in der Gesellschaft eine zunehmend feindliche Stimmung entgegen. Denn nicht nur der Antisemitismus, auch antimuslimischer Rassismus hat gerade Hochkonjunktur. Palästinensische Stimmen sind im medialen Diskurs marginalisiert, der Generalverdacht „Islamismus“ ist verbreitet.

Er trifft nicht nur die Radikalen, sondern auch diejenigen, die in diesen Zeiten um Dialog bemüht sind. Ender Cetin berichtet von einem Kollegen, der den Überfall der Hamas vor seiner Gemeinde verurteilt habe. Trotzdem hätten einige Medien ihn kurz darauf als Antisemiten verunglimpft, weil er sich in der Vergangenheit einmal mit der falschen Person getroffen hätte. „Es reicht schon ein kleiner Fehler, und schon ist die ganze Arbeit, die man geleistet hat, umsonst“, sagt Cetin. Die Radikalen in den eigenen Reihen diffamieren einen schnell als westlichen Handlanger, die Mehrheitsgesellschaft hat schnell den Vorwurf des Antisemitismus oder Islamismus parat. 

Im schlimmsten Fall verliert man beide, die eigene Community und den Rest der Gesellschaft.

Imam Ender Cetin

Die Angst vor einem deutschen Staatsislam

Ein großes Fragezeichen bleibt für die neuen Imaminnen und Imame der Arbeitsmarkt. „Wir haben jetzt zwar alle ein Zeugnis, aber wir arbeiten noch immer in unseren früheren Jobs, in der Schule, in der Seelsorge oder als Bediensteter am Flughafen. Das ist nicht, was wir uns erhofft haben“, sagt Ender Cetin. Besonders schwierig wird die Arbeitssuche wohl für die ausgebildeten Frauen. Dass auch Frauen Imaminnen werden können, ist kein Novum. Sie beten dann aber in der Regel ausschließlich vor Frauengemeinschaften, da es Frauen traditionsgemäß verboten ist, vor Männern zu beten. Deshalb wählen die Moscheen üblicherweise einen Mann als Imam, die Frauen bringen sich eher in anderen Rollen ein, sie arbeiten als Seelsorgerinnen oder erledigen Verwaltungsaufgaben. 

Aber auch von den Männern hat noch niemand eine fixe Anstellung. Den meisten Moscheevereinen fehlt es schlicht an Geld, um Personen hauptamtlich zu beschäftigen. Und diejenigen Moscheen, die von ausländischen Staaten finanziert werden, ziehen es meistens vor, ihre Imame weiterhin aus dem Ausland zu holen. Eine Moscheesteuer – ähnlich der Kirchensteuer – gibt es nicht, im Gegensatz zu Österreich ist der Islam in Deutschland noch immer keine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft. Das macht es schwer, staatliche Finanzierungen zu erhalten.

Gegen direkte staatliche Unterstützung spricht noch ein weiterer Grund. Viele Muslime betrachten die Imam-Ausbildung schon jetzt mit Argwohn, konservative Stimmen schüren die Angst vor einem „deutschen Staatsislam“. Lehrveranstaltungen zur Demokratie oder zum interreligiösen Dialog – insbesondere mit den jüdischen Gemeinden – sorgen bei manchen muslimischen Verbänden für besonderes Misstrauen: Warum soll eine Imam-Ausbildung solche Lehrinhalte nötig haben? Sie meinen, darin die Handschrift des Staates zu erkennen.

Der Historiker und Islamwissenschaftler Murat Caglayan ist am IKD Dozent für politische Bildung und kennt die Vorwürfe gut. „Es gibt keinen staatlichen Einfluss auf die Lehrinhalte, weder aus dem Inland noch aus dem Ausland“, stellt Caglayan klar – auch in Richtung jener muslimischen Verbände, die sich an staatlichem Einfluss wenig stören, sobald er aus dem Ausland kommt. 

Der Historiker und Islamwissenschaftler Murat Caglayan ist am IKD Dozent für politische Bildung. (c) Privat

Tatsächlich entscheidet der Vorstand des IKD selbst, was auf den Lehrplan kommt. „Für uns ist wichtig, dass das Projekt auf Augenhöhe gemeinsam mit der Mehrheit der Muslime entwickelt wird – so vielfältig diese Mehrheit auch ist“, sagt Caglayan. Auch das Modul politische Bildung gehe auf eine muslimische, nicht auf eine staatliche Initiative zurück. 

Für Caglayan ist die Frage, ob der Islam politische Bildung nötig hat, falsch gestellt. Politische Bildung sei überall nötig, wo Menschen in einer Demokratie soziale Verantwortung tragen oder pädagogisch tätig sind. Dasselbe gelte für die Extremismus-Prävention: „Der Verfassungsschutzbericht ist hier sehr klar, politischer Extremismus ist kein typisch muslimisches Problem. Es ist eine Minderheit, die radikale Ansichten vertritt. Trotzdem müssen wir uns die Frage stellen, wie wir mit Extremismus im Islam umgehen.“

Fachkräftemangel in österreichischen Moscheen

Der Schaden, den zu viel staatlicher Einfluss anrichten kann, zeigt sich in Österreich. Auch hier geistert die Idee einer inländischen Imam-Ausbildung schon lange durch die Politik. Die etwa 200 muslimischen Gebetshäuser in Österreich würden händeringend nach gut ausgebildeten Imamen suchen, sagte Ümit Vural, der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) noch im Jahr 2018. Dabei müssten sich viele Gemeinden mit Imamen aus dem Ausland behelfen, die gar kein Deutsch sprechen. „Das öffnet Extremisten Tür und Tor“, warnte Vural. Fünf Jahre später gibt es für eine Imam-Ausbildung noch nicht einmal Pläne.

Für den Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker ist die fehlende Imam-Ausbildung ein bemerkenswertes Versäumnis. Denn eigentlich hätte Österreich gute Voraussetzungen: Im Gegensatz zu Deutschland ist der Islam hier bereits seit 1912 eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft. Bisher wurde das immer als Errungenschaft gefeiert. Die frühe Institutionalisierung ermöglichte „ein friktionsarmes Verhältnis zwischen Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft“, steht in einem Bericht der Zeitschrift „Öffentliche Sicherheit“, die vom Bundesinnenministerium herausgegeben wird. Dazu bringt der offiziell anerkannte Status ganz praktische Vorteile für die Glaubensgemeinschaft, etwa die Möglichkeit staatlicher Förderungen.

2015 wurde an der Universität Wien immerhin ein islamisch-theologisches Studium eingerichtet. Auch wenn der Imam keine geschützte Berufsbezeichnung ist, gehört eine mehrjährige theologische Ausbildung zu den Voraussetzungen. Theoretisch könnten die Abgängerinnen und Abgänger des Studiums auch in den Moscheen predigen. Doch bis heute predigt kein einziger Absolvent, keine einzige Absolventin als hauptamtlicher Imam oder Imamin. Die Absolventen drängen eher in andere Berufe, etwa in die Seelsorge.

Rüdiger Lohlker
Für den Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker ist die fehlende Imam-Ausbildung ein bemerkenswertes Versäumnis.

Überhaupt sind die Beziehungen zwischen den Theologie-Professorinnen und -Professoren und den muslimischen Gemeinden konfliktbehaftet. Zwischen Ednan Aslan, dem stellvertretenden Leiter des Instituts für Islamisch-Theologische Studien, und der Muslimischen Jugend (MJÖ) endete erst im vergangenen Frühjahr ein zwei Jahre langer Rechtsstreit, nachdem Aslan der MJÖ vorgeworfen hatte, „Hetze“ zu betreiben. Vertreter der MJÖ hatten Aslan zuvor wegen seiner Veröffentlichung einer Islam-Landkarte kritisiert. Neue Aufregung gab es letztes Jahr, als muslimische Schülerinnen und Schüler im Rahmen einer Studie befragt wurden, ob sie etwa der Anblick behinderter Menschen stört oder sie glauben, dass Frauen durch freizügige Kleidung sexuelle Bereitschaft signalisieren. Die IGGÖ forderte angesichts dieser Studie ein „Ende manipulativer Forschung zu Muslim:innen“. Adnan wiederum hatte die IGGÖ zuvor als „außenpolitische Organisation der Türkei“ bezeichnet.

Lohlker sieht die Ursache des Konflikts in einer übermäßigen Einflussnahme des Staates. Der Studiengang „Islamische Theologie“ geht auf eine Initiative des damaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz zurück. Ausgewiesenes Ziel war es dabei, eine Theologie zu fördern, welche die Religion zeitgemäß auslegt. Ohne Namen zu nennen, beklagt Lohlker, dass Professoren der Islamischen Theologie an der Uni Wien einen „exklusivistischen“ Zugang pflegen, wie er es nennt: „Man sieht nur die eigene Auslegung als die einzig richtige an.“ Diese Herangehensweise habe man ironischerweise gerade mit jenen gemein, die man eigentlich bekämpfen will: den Islamisten. 

Für Lohlker grenzt das an Selbstsabotage. Das Dilemma, das sich hier ergibt, ist folgendes: Welchen Nutzen haben Professuren für Islamische Theologie, die ein neues Islamverständnis fördern, wenn sie bei der Mehrheit der Musliminnen und Muslime keine Glaubwürdigkeit genießen? Lohlker plädiert deshalb für ein Ende aller exklusivistischen Zugänge: „Es kommt nicht darauf an, eine bestimmte Auslegung des Islam, sondern Raum für Debatten zu fördern. In den meisten Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung gibt es diesen Raum nicht. Wenn der Islam ihn endlich hier bekommt, löst sich das Problem mehr oder weniger von selbst.“ 

„Wir Muslime brauchen eine neue Streitkultur“

Ähnliche Gründe nennt auch Imam Ender Cetin, wenn er erklärt, warum er sich über Debatten freut, wie jene, die nach seiner Koranauslegung in Berlin über den „Islamismus“-Begriff ausgebrochen ist. Er zitiert einen Ausspruch des Propheten:

Die unterschiedlichen Meinungen in meiner Gemeinschaft sind eine Barmherzigkeit Gottes.

Imam Ender Cetin zitiert Mohammed, den Propheten

Cetin weiß aus eigener Erfahrung, was die eingeschränkten Debattenräume für die Praxis seiner Religion bedeuten. Bevor er die Ausbildung in Osnabrück absolvierte, hat er für eine Moschee des türkischen DITIB-Verbands gearbeitet. Der Verband untersteht direkt der Diyanet, der türkischen Religionsbehörde. Dort hat er Imame kennengelernt, die den Koran sehr zeitgemäß interpretiert haben. Sie haben sich dann aber nicht getraut, das in ihren Predigten so zu vermitteln. „Wenn ich sie nach dem Grund gefragt habe, sagten sie: Die Gemeinde würde das nicht verstehen. Und schlimmstenfalls kommt einer von der Religionsbehörde. Dann war’s das mit deinem Job“, berichtet Cetin.

Er schätzt deshalb die offene Debattenkultur in Deutschland, den Pluralismus der Meinungen, und findet: „Das brauchen wir Musliminnen und Muslime auch.“ Cetin glaubt, dass viele Gläubige die Vorteile davon noch nicht ganz verstanden hätten. Stattdessen beobachtet er noch immer diese Dynamik, dass man lieber höflich ist und sich mit der eigenen Meinung zurückhält, um den Frieden zu wahren. Wenn dann jemand doch eine abweichende Meinung hat, wird er diffamiert und ausgegrenzt.

Dann blickt Cetin in die Jahrhunderte zurück. Eine offene Streitkultur habe es früher auch in islamischen Gesellschaften gegeben, erst im letzten Jahrhundert habe sich alles homogenisiert. Es durfte nur noch ein Verständnis der Texte geben, alles andere wurde verworfen oder sogar verfolgt. 

Es ist aber gerade der Versuch, Debatten zu vermeiden, der zu Spaltung, Konflikten und Gewalt führt.

Imam Ender Cetin

Cetin und der Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker kennen sich nicht, trotzdem klingen ihre Ansichten verblüffend ähnlich. Wer eine bestimmte Interpretation des Islam von oben herab durchsetzen will, begehe denselben Fehler. Es kommt darauf an, exklusivistische Auffassungen zu überwinden, egal auf welcher Seite.

Cetin schätzt deshalb das Vertrauen, das der deutsche Staat ihm als Kollegiaten und seinen Ausbildern entgegengebracht hat. Dass die verschiedenen Interpretationen mit dem Grundgesetz nicht in Konflikt stehen, sei der Grundkonsens dieses Vertrauens. In den zwei Jahren Ausbildung zum Imam hat Cetin nicht einmal erlebt, dass sich der Staat bei den Inhalten eingemischt hat. 

Einen neuen Vertrauensvorschuss bekamen Deutschlands neue Imame im vergangenen Dezember. Obwohl sich das Projekt offiziell noch in der Pilotphase befindet, gab Innenministerin Faeser bekannt, dass die Entsendung von Imamen aus dem Ausland in den kommenden Jahren komplett beendet werden soll. Ein entsprechendes Abkommen wurde mit der Türkei geschlossen. Das Ziel: Schon in wenigen Jahren sollen in Deutschlands Moscheen fast ausschließlich die im Inland ausgebildeten Imaminnen und Imame predigen. 


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Illustration: Fiona Walatscher


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