Extremismus gar nicht erst gedeihen lassen
Der Schlüssel im Kampf gegen extremistische Ideologien liegt darin, sie erst gar nichtaufkommen zu lassen. Wie aber geht die Beratungsstelle Extremismus dabei vor?
Die Beratungsstelle Extremismus tritt in Fällen von Radikalisierung auf den Plan – jedoch nicht nur dann. Wie begegnet man einer Gefahr, die oft unsichtbar bleibt, bis es zu spät ist?
Radikalisierung entsteht selten abrupt, sondern entwickelt sich schleichend – häufig unbemerkt und leicht unterschätzt. Verena Fabris kennt diese Prozesse aus nächster Nähe. Als Leiterin der Beratungsstelle Extremismus beschäftigt sie sich täglich mit diesen komplexen Dynamiken.
Besonders Jugendliche seien in einer zunehmend polarisierten Welt gefährdet.
Durch Plattformen wie Instagram und TikTok hat sich die Präsenz und Zugänglichkeit extremistischer Inhalte enorm verstärkt.
Neben dem Fokus auf islamistischen Extremismus verzeichne man eine Zunahme von Antifeminismus und LGBTIQ+-Feindlichkeit. Diese sogenannten Brückennarrative spielen laut Fabris sowohl im Rechtsextremismus als auch im islamistischen Extremismus eine zentrale Rolle.
Die Beratungsstelle Extremismus, koordiniert von der Bundesstelle für Sektenfragen, arbeitet seit über zehn Jahren daran, Radikalisierung frühzeitig zu erkennen und setzt dabei vor allem auf Prävention. Extremistisches Gedankengut soll möglichst gar nicht erst in den Köpfen von Jugendlichen Fuß fassen. „Deshalb ist es entscheidend, zunächst die Beweggründe für eine Hinwendung zu extremistischen Ideologien oder Gruppierungen zu analysieren“, erläutert Fabris.
Welche individuellen Bedürfnisse oder Defizite liegen diesem Schritt zugrunde? Und wie können wir diese aufarbeiten, um eine nachhaltige Distanzierung zu ermöglichen?
“Unsere Arbeit wäre ohne Kooperationen nicht denkbar”
Erst danach geht es darum, Alternativen aufzuzeigen – sowohl zur Ideologie als auch zur Gruppe. Dabei steht der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung im Zentrum. „Häufig bedarf es einer Stärkung der persönlichen Identität, gepaart mit sozialarbeiterischen Maßnahmen. Besonders, wenn ein stabiles Umfeld, eine Arbeitsstelle oder eine Wohnung fehlen, geraten Jugendliche leicht in den Sog extremistischer Gruppierungen”, betont Fabris.
Um dies zu bewältigen, setzt die Beratungsstelle auf enge Zusammenarbeit mit Partner:innen. „Unsere Arbeit wäre ohne Kooperationen mit Schulen, Gemeinden und sozialen Einrichtungen nicht denkbar“, weiß Frabris.
Gerade Schulen spielen dabei eine Schlüsselrolle: Sie sind nicht nur Orte des Lernens, sondern auch Räume, in denen Jugendliche wichtige soziale Bindungen knüpfen. Auch wenn das natürlich manchmal herausfordernd sein kann. “Als Beratungsstelle haben wir einen psychosozialen Fokus, die Schulen haben einen Bildungsauftrag. Diese unterschiedlichen Perspektiven können hilfreich sein, manchmal aber auch hinderlich”, gesteht Fabris. Die Vorteile dürften dennoch überwiegen.
Aktuell kooperiert die Beratungsstelle etwa mit dem Projekt “Respekt: Gemeinsam stärker”, einer Initiative des Vereins Wiener Jugendzentren. Das Programm, das mittlerweile in seinem dritten Durchgang ist, wurde 2024/25 um Volksschulen und Polytechnische Schulen erweitert. Anfangs wurden die Schulen noch angeschrieben, beim diesjährigen Durchgang haben sich auch schon Bildungseinrichtungen von selbst beworben. “Mittlerweile spricht es sich herum”, erklärt Anja Gerhartl, langjährige Sozialarbeiterin und Leiterin des Projekts.
Zehn Schulen sind es, die begleitet werden, um Strukturen für ein gewalt- und hassfreies Miteinander aufzubauen.
Jede Klasse ist im Grunde eine Zwangszusammenführung. Konflikte sind daher unvermeidlich.
Im Rahmen von „Respekt: Gemeinsam stärker“ entwickelt die Initiative für jede Schule ein maßgeschneidertes Konzept. „Vorab sprechen wir mit Lehrkräften, Eltern und Schüler:innen, um individuelle Bedürfnisse zu ermitteln“, erklärt Gerhartl.
“Es gibt keine einfache Checkliste für Radikalisierung”
Das Programm basiert auf vier Handlungsfeldern: Gewaltprävention, Gleichberechtigung und Vielfalt, Kreativität und Erlebnisse sowie Beteiligung und Mitsprache. Gewaltprävention umfasst Schulungen zu Mobbing- und Cyberbullying-Prävention, Antigewalt-Training sowie Konfliktlösung und Teambuilding. Im Bereich Gleichberechtigung liegt der Fokus auf der Stärkung von Mädchen, der Reflexion von Geschlechterrollen sowie der Förderung von Vielfalt und Akzeptanz. Theater- und erlebnispädagogische Ansätze fördern sowohl Kreativität als auch Persönlichkeitsentwicklung. Gleichzeitig lernen Jugendliche demokratische Werte und Selbstwirksamkeit durch aktive Beteiligung.
Die Beratungsstelle Extremismus unterstützt Schulen insbesondere in den ersten beiden Handlungsfeldern. „Lehrkräfte äußern in den Vorgesprächen häufig Unsicherheiten und Sorgen in Bezug auf Extremismus“, berichtet Gerhartl.
Workshops und Aufklärung sind ohnehin das Rückgrat der Arbeit der Beratungsstelle. In den letzten zehn Jahren erreichte sie damit über 25.000 Teilnehmer:innen. Ein Vielfaches mehr erreicht die Beratungsstelle nochmal über Social-Media-Initiativen. Neben einer Anti-Gewalt-Kampagne auf TikTok und Instagram setzt sie auch auf zielgerichtete Formate für Jugendliche. Besonders erfolgreich ist dabei ‚Cop & Che‘.
Das TikTok-Format vereint den Wiener Grätzlpolizisten Uwe Schaffer und den 23-jährigen Ahmad Mitaev aus der tschetschenischen Community, der einst selbst den Ideologien des IS verfallen war. Heute will er genau dagegen ankämpfen. In kurzen, lockeren Videos beantworten Mitaev und Schaffer Fragen aus der Community – von rechtlichen Themen bis zu Alltagssorgen. Was 2022 bei einer Diskussionsveranstaltung begann, entwickelte sich zum Social-Media-Hit: Ihre Clips erreichen Hunderttausende und schaffen eine Brücke zwischen Polizei und jungen Menschen, besonders aus migrantischen Milieus.
Ihr Erfolg gründet auch darauf, dass sie ein verborgenes Thema ins Licht rücken: Radikalisierung verläuft subtil, und die Anzeichen sind oft schwer zu erkennen. Gewaltakzeptanz, Vorstellungen von Ungleichheit oder eine Blockadehaltung gegenüber Kritik können Hinweise sein. Doch, wie Fabris betont, „es gibt keine einfache Checkliste für Radikalisierung”. Jede Geschichte sei einzigartig und müsse deshalb im jeweiligen Kontext betrachtet werden.
„Jugendliche brauchen Räume, in denen sie kritische Fragen stellen können und Selbstwirksamkeit erleben“, sagt Fabris außerdem. Das Ziel ist ein Umfeld, das ihnen Perspektiven bietet und sie stärkt, sich gegen die Verlockungen extremistischer Gruppen zu behaupten.
Prävention bedeutet, dass alle Maßnahmen, die erfüllende Beziehungen fördern, Zugehörigkeit und Wertschätzung ermöglichen und ein Leben frei von existenziellen Ängsten schaffen, Jugendliche widerstandsfähig gegen Extremismus machen.
Zur Beratungsstelle Extremismus:
Die Beratungsstelle Extremismus ist eine österreichweite Anlaufstelle für Fragen zum Thema Extremismus. Sie kann für alle Arten von Extremismen, seien sie religiös argumentiert oder politisch begründet (u.a. islamistischer Extremismus, Rechtsextremismus, Staatsverweigerer, Verschwörungsideologien) herangezogen werden.
Das Team ist multiprofessionell (Soziale Arbeit, Psychologie, Bildungswissenschaft, Orientalistik, Politikwissenschaft) und mehrsprachig (bosnisch-kroatisch-serbisch, deutsch, englisch, italienisch, türkisch) aufgestellt. Finanziert wird die Beratungsstelle vom Bundeskanzleramt – Sektion Familie und Jugend.
Sie versteht unter Extremismus ein Bündel von Elementen. Wesentliche sind: die Vorstellung sozialer Ungleichheit, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Autoritarismus sowie Gewaltbereitschaft.
Fragen zu Extremismus?
Machen Sie sich Sorgen um Ihr Kind, einen Jugendlichen oder jemand anderen? Sind Sie verunsichert, ob Gefahr besteht? Hier gehts zu den Angeboten der Beratungsstelle Extremismus.
Weiterführende Links:
- Beratungsstelle Extremismus auf Instagram und TikTok
- Respekt: Gemeinsam stärker
- Bundesstelle für Sektenfragen
- Cop und Che auf Instagram und TikTok
Buchempfehlung: COP UND CHE, Wie ein Tschetschene und ein Polizist zu TikTok-Stars wurden von Edith Meinhart erscheinen 2024 im Mandelbaumverlag
Weiterlesen? Mission possible: Wie Demokratie vial gehen kann
Die wichtigen Gesellschaftsthemen sind relevant.
- Keine Armut (5)
- Kein Hunger (1)
- Gesundheit & Wohlergehen (11)
- Hochwertige Bildung (12)
- Geschlechtergleichheit (13)
- Sauberes Wasser & Sanitäreinrichtungen (1)
- Bezahlbare & saubere Energie (2)
- Menschenwürdige Arbeit & Wirtschaftswachstum (8)
- Industrie, Innovation und Infrastruktur (9)
- Weniger Ungleichheiten (17)
- Nachhaltige Städte & Gemeinden (18)
- Nachhaltiger Konsum & Produktion (8)
- Massnahmen zum Klimaschutz (21)
- Leben unter Wasser (1)
- Leben am Land (12)
- Frieden, Gerechtigkeit & starke Institutionen (25)
- Partnerschaften zur Erreichung der Ziele (4)
Schreibe einen Kommentar