Kommentar: Achtung, dieser Text will polarisieren!
Wie soll man denn bitte nicht polarisieren, wenn man über die Welt schreibt? fragt Walter Mayer, ehemaliger Chefredakteur von Tempo, BZ und Bild am Sonntag und erklärt uns, was ein Besuch im DDR Pressecafe 1978 mit Polarisierung heute, Wahrheit, Langeweile und Aufklärung zu tun hat. Er will polarisieren!
Es war 1979, das Jahr, in dem Sony den Weltmarkt mit dem allerersten Walkman und eine Band namens Village People die Ohren der Discogänger mit dem Song „YMCA“ erschütterte. Gleichzeitig wurde die Deregulierungs-Queen Margaret Hilda Thatcher Premier in Großbritannien und zeigte, wie gut entfesselter Kapitalismus und Female Empowerment miteinander klarkommen. Eine aufregende Zeit. Und ich hatte gerade mit Not, Mühe und einigen Tricks, die hier jetzt nicht weiter beschrieben werden, die Matura am Musisch-pädagogischen Realgymnasium in Salzburg geschafft. Nach dieser Verbeugung vor der Leistungsgesellschaft sollte nun der Mythos Freiheit umarmt werden. Also: ab nach Berlin.
Mit einer Freundin stoppte ich per Anhalter in die geteilte Stadt, in der, das wollte man damals in der österreichischen Provinz jedenfalls fest glauben, nahezu alles möglich war. Wir testeten die imaginierten Möglichkeiten jedoch nicht aus, sondern hielten uns ans klassische Touristenprogramm, besichtigten Zoo, Wannsee und die Mauer (zunächst von der harmlosen, westlichen Seite). Nach einer anstrengenden, aber die Verheißung von Entgrenzung und Extase nicht erfüllenden, Disco Nacht in Kreuzberg unternahmen wir einen Ausflug rüber in den Osten, nach „Berlin, Hauptstadt der DDR“.
Unter den strengen Augen der bewaffneten Organe der Arbeiter- und Bauernmacht enterten wir also via Checkpoint Charlie das Land, das dreißig Jahre zuvor auf dem Boden der sowjetischen Besatzungszone gegründet worden war und sich seit 18 Jahren durch eine tödliche, Stacheldraht bewahrte Mauer vor dem Zerfall schützte.
Die Grenzer blickten böse. Die Hunde knurrten fleischeslustig.
Obwohl Bürger des neutralen Österreichs schienen wir irgendwie verdächtig. Ich hatte meine Haare hennarot gefärbt und trug Cowboystiefel. Meine Begleiterin duftete nach der Kreuzberger Nacht und ein paar Sprühstössen Chanel Nr. 5 (hatte sie im Kadewe geklaut) und drückte während der Passkontrolle die „Cherry Coke“-Dose, die ihr ein Promo Team der Coca Cola Company auf der Westseite der Grenze aufgedrängt hatte, fest an ihre Brüste. Ich hatte den „stern“ dabei – ich weiss nicht mehr, was die Titelgeschichte war, aber ich erinnere mich, dass das Coverfoto eine Nacktbadende zeigte, die den Betrachtenden ihren wellenumspülten Hintern entgegenstreckte. Die Illustrierte wurde mir abgenommen.
Eingeschüchtert schauten wir in die auf uns gerichteten Gewehrmündungen, passierten endlich die Grenzanlagen und liefen über die Friedrichstraße an Neuer Wache und Oper vorbei Richtung Alexanderplatz. Zweitaktige Trabants tuckerten und Simson-Mopeds beförderten Studenten zum Hauptgebäude der Humboldt Uni. Unser Ziel war das Pressecafé des Berliner Verlages.
Dort gab es dünnen Kaffee und, so hatten mir es Salzburger Bekannte vom „Kommunistischen Studentenverband“, mit schwärmerischen Timbre in der Stimme versprochen, sämtliche, wirklich alle Tages- und Wochenzeitungen und sonstigen Druckerzeugnisse der sozialistischen Republik sowie der DDR wohlgesonnene Publikationen aus dem globalen Osten. Die wollte ich studieren, um mir ein eigenes, objektives Bild von dem „anderen Deutschland“ zu machen.
Draussen regnete es schüchtern, meine Freundin hatte sich nach einem Glas bulgarischen Rotweins dennoch ins nasse Grau verabschiedet, sie wollte sich das Pergamon-Museum anschauen; und ich machte es mir in in einem der Kunststoff-Schalensessel der zwei etagigen, im Stil des Ost Futurismus gebauten, Gaststätte so bequem wie möglich und blätterte durch Zeitungen, die ich nie zuvor in Händen gehalten hatte: Neues Deutschland, Neue Zeit, Junge Welt, Freies Wort, Der Morgen, Leipziger Volksstimme und zwei Dutzend weitere Gazetten.
Botschaften aus einer Gesellschaft, die keine Widersprüche aufzuweisen schien.
Hinter mir saß ein mittelalter Herr mit sehr vollem Haar und einer breiten, quergestreiften Krawatte, die man heute vielleicht modisch finden würde. Er trank Weinbrand oder ähnliches und ich bildete mir ein, dass er mich genauestens beobachtete. Sonst war das Lokal weitgehend leer. Wahrscheinlich war das wirklich nur eine Einbildung, er starrte wohl eher nur ins Leere, Zeitung las er jedenfalls keine.
In den Blättern, die ich zur Hand nahm, bot sich eine geordnete Welt dar, in der es so still und so unaufregend war, wie hier im Pressecafe. Ich las Botschaften aus einer Gesellschaft, die keine Widersprüche aufzuweisen schien. Keine Skandale, kein Verbrechen, keine Konflikte. Die Vielfalt der Presseerzeugnisse konnte nicht über die Einfalt der Inhalte täuschen.
All diese DDR-Tageszeitungen waren mit den gleichen oder ähnlichen Überschriften und gleichlautenden Stories erschienen. Wenn der erste Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzende des Staatsrats der Deutschen Demokratischen Republik, Erich Honecker, irgendwem die Hand geschüttelt hatte, stand das in allen Blättern in gleicher Größe und immer mit seiner kompletten, komplizierten Amtsbezeichnung.
Unterschiede gab es nur in Typographie und Layout. Nur Konsens, null Nonsens. In all den Blättern keine Abweichung. Frieden, Freundschaft – und ein Hoch auf den super fortschrittlichen Fünfjahresplan. Ich empfand diese künstliche Harmonie als pure Gewalt, die Phrasen taten mir weh.
Ein Blatt habe ich mitgenommen und bis heute aufgehoben. Es war die „Neuen Zeit“ vom Montag, den 7. Juli 1979 und die Schlagzeile lautete tatsächlich: „Erholsamer Urlaub für Millionen Werktätige“. Honecker hatte tags zuvor wohl frei, denn er kam nicht vor. Weitere Headlines auf Seite Eins der Ausgabe „Neue EDV-Anlage serienreif“,
Nicht einmal gegen den Westen/USA/Imperialismus etc. wurde gehetzt Dass es eine Welt jenseits der Mauer gab, blieb weitgehend ausgeblendet!
Keine „Polarisierung“ nirgends. Es waren Sätze wie Gitterstäbe.
Ich dachte, ich ersticke beim Lesen. Und merkte: Widerspruch ist der Sauerstoff, nachdem ich mich sehnte. Ohne Widerspruch wirst Du erst müde, dann gleichgültig, wehrlos und irgendwann bist Du: tot!
Warum erinnerte ich mich blitzartig an diesen so lange zurückliegenden Ausflug in das Ostberliner Pressecafe ( das später ein Steakhaus wurde ) als mich Indra Jäger von „relevant“ um einen Beitrag zum Thema Polarisierung bat? Was hat die Einöde des untergegangenen Partei Journalismus mit unserer modernen Medienwelt zu tun? Und was die eingehegten Meinungen der untertänigst schreibenden Genossen mit der polarisierenden Hetze in den sozialen Medien von heute?
Der Besuch des Cafes am Alexanderplatz und die Lektüre der gleichgeschalteten Presse hat mitgeholfen, mein Weltbild zu konstituieren und meine Haltung zum Journalismus geformt. Wenn es ums Schreiben und Blattmachen geht, befürworte ich vier einfache Prinzipien – und mehr muss man, glaube ich, auch nicht zum Thema „Polarisierung“ sagen:
1. Die Wahrheit darf wehtun.
2. Langweiler werden nicht gelesen.
3. Neugier ist der Motor der Aufklärung.
4. Der Berichterstatter darf parteiisch sein ( das lässt sich eh nie ganz vermeiden ), aber bitte kein Aktivist.
Wie soll man denn bitte nicht polarisieren, wenn man über die Welt schreibt?
Waffenlieferungen für die Ukraine? Sie Polarisieren! Israels Kampf gegen die Hamas? Polarisiert! Gaza-Solidarität? Polarisiert mindestens ebenso! Gendern in der ZiB2 ? Polarisiert! Genderverbot in NÖ? Polarisiert natürlich genauso! Die Aktionen der Klimakleber und die Leitkulturkampagne? Megapolarisierung! Nehammer, Babler, Kickl – unsere Chef-Polarisierer!
Wer Jan Böhmermann sagt, der kann auch Julian Reichelt sagen. Und umgekehrt. Freiheit braucht Wahrheit und Widerspruch – beides kann verletzen und polarisieren, natürlich. Wenn der Zugang zur Welt offen ist, nona, dass man sich dann an ihren Kanten stößt.
Polarisieren darf, muss manchmal sein. Ich bin selbstverständlich für faires, respektvolles, undiffamierendes, aber hartes und (wenn gelungen, dann gerne auch) polemisches Polarisieren. Ich bin ein Freund des gediegenen Gefechts. Vor allem aber bin ich ein Feind von Langeweile und Friedhofsruhe.
Walter Mayer, Jahrgang 1959 – war u.a. Chefredakteur von Tempo, BZ, und Bild am Sonntag, lebt heute als freier Autor in Wien und Marrakesch.
Welchen Journalismus brauchen wir, um der Polarisierung etwas entgegenzusetzen?
Das haben wir führende Medienschaffende, Journalist:innen, Vertreter:innen aus der Zivilgesellschaft und Forschende aus dem deutschsprachigen Raum gefragt. Dieser Kommentar erschien ursprünglich am 2. Mai 2024 in jetzt relevant #2 Polarisierung und Medien.
Titelbild: Pressecafe Berlin 2022, Josef Streichholz (talk | contribs) Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
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