Auf gute Nachbarschaft
Besonders eingewanderte Frauen haben häufig kaum Kontakte außerhalb ihrer eigenen Communities. Die Nachbarinnen erleichtern zugewanderten Landsleuten die Orientierung in der neuen Heimat: So einfach funktionieren die Nachbarinnen in Wien – und das bereits seit 2013.
„Ich hatte meine Praxis im 10. Bezirk und 60 Prozent meiner Patientinnen waren Türkinnen, von denen viele kein Deutsch sprachen“, erzählt Christine Scholten. Vor allem die isoliert lebenden Frauen waren schwer zu erreichen, also beschloss die Kardiologin, etwas zu tun: Sie lernte Türkisch und gründete gemeinsam mit der Sozialarbeiterin Renate Schnee 2013 die „Nachbarinnen in Wien“.
Frauen mit demselben kulturellen Hintergrund unterstützen zugewanderte Familien – so lautet das simple und effiziente Prinzip der Nachbarinnen. Die Frauen sprechen die gleiche Sprache und besuchen die Familien zuhause. Darüber hinaus bieten sie Unterstützung bei Amtswegen und Arztbesuchen, Kontaktaufnahme mit Schulen oder bei der Vermittlung von Lernhilfen. Das erklärte Ziel: Frauen zu empowern und zugleich die Familien zu stärken.
„Die ersten Mitarbeiterinnen lernten wir durch Interviews in Vereinen oder Frauentreffs kennen“, erklärt Christine Scholten. Die Frauen absolvierten eine Ausbildung zur Sozialassistentin an der Alpen Adria Universität Klagenfurt und werden beim Verein angestellt.
Neue Mitarbeiterinnen bekommen eine Einschulung durch die erfahrenen Nachbarinnen, viele davon wurden davor selbst von uns betreut.
Christine Scholten, Nachbarinnen
Begegnung auf Augenhöhe
Neben türkischen Familien gibt es fünf weitere Communities, die von den Nachbarinnen betreut werden. Dazu gehören Familien aus dem Iran und Afghanistan, Syrien, Somalia sowie Tschetschenien.
„Diese Russisch sprechenden Frauen erreichen auch Familien aus der Ukraine und Russland“, erklärt Christine Scholten. Pro Jahr werden etwa 300 bis 400 Familien betreut, durchschnittlich drei bis fünf Monate lang.
Die Nachbarinnen gewinnen das Vertrauen der Familien durch regelmäßige Hausbesuche sowie Familienkonferenzen und Elterntische. Der Verein bietet auch Lernhilfe für Schüler:innen an. Im Laufe der Jahre wurden beinahe 20.000 absolvierte Lernstunden gezählt. Oder er ermöglicht Zugang zu Kunst, wie Elham Agoosh, eine der Nachbarinnen, erzählt:
Der Sohn einer von mir betreuten Iranerin war in der Schule unruhig und machte Probleme. Die Mutter lebt von ihrem gewalttätigen Mann getrennt und hat Angst, von ihm gefunden zu werden.
Elham Agoosh, Nachbarinnen
Agoosh erreichte für den Achtjährigen ein Stipendium des Mumok (Museum moderner Kunst Wien) für ein Scratch Lab, in dem sich 8 bis 19-Jährige auf digitalem Wege mit Kunst auseinandersetzen. Die Mutter hat eine Ausbildung zur Elternmoderatorin beim Verein Nachbarinnen gemacht, um Elterntische moderieren zu können.
Frauenrechte, auch auf Persisch
Elham Agoosh, die 2008 aus dem Iran nach Österreich kam, absolvierte eine Ausbildung zum Integrationscoach und zur Sozialarbeiterin. Sie arbeitet seit zwei Jahren für die Nachbarinnen und betreut rund zehn Familien aus Afghanistan und dem Iran.
Agoosh erzählt von Frauen, die von ihren Männern wie Leibeigene gehalten werden und nichts über ihre Rechte in Österreich wissen.
Im Iran hat der Mann die Obsorge für die gemeinsamen Kinder.
Elham Agoosh, Nachbarinnen
„Nach einer Scheidung oder seinem Tod geht diese automatisch an den nächsten männlichen Verwandten.“ Die meisten Frauen wüssten nicht, dass es in Österreich andere Gesetze gebe. „Daher habe ich die wichtigsten Frauenrechte auf persisch übersetzt“, erzählt Agoosh stolz, die auch für ihre eigenen Töchter Vorbild sein möchte.
Hilfe zur Selbsthilfe
„Wir legen Wert darauf, uns nicht als karitative Organisation zu bezeichnen, sondern bieten Hilfe zur Selbsthilfe“, betont Christine Scholten. „Wir fördern nicht nur, sondern fordern auch.“ Die Nachbarinnen bieten ihren Klientinnen jede Woche einen kleinen Handel an:
Du kommst mit mir ins Museum und dafür begleite ich deinen Mann zum AMS.
Oder: Die Tochter will radfahren, doch der Vater ist dagegen. Eine Vereinbarung könnte so aussehen: Die Mutter bekommt einen Praktikumsplatz durch den Verein, bei dem sie eigenes Geld verdient, dafür lässt der Vater die Tochter radfahren. Auch bei der Lernhilfe, die symbolische zwei Euro pro Stunde kostet, wird von den Familien verlangt, dass sie im Gegenzug etwas für die Integration des Kindes tun. „Solange wir die Lernhilfe gratis anboten, wurden die Stunden oft nicht eingehalten“, erklärt Scholten. „Ein kleiner Beitrag, auch wenn es nur zwei Euro sind, bietet mehr Verbindlichkeit.“
In den meisten Familien erkennen die Männer, dass sie selbst von der Unterstützung der Nachbarinnen profitieren können, weiß Elham Agoosh aus Erfahrung. „Wir mussten bisher erst einmal die Begleitung stoppen, weil der Mann jegliche Unterstützung abgelehnt hat.“
Arbeit integriert
Vor allem Frauen aus traditionellen Kulturen sollen durch Selbstermächtigung gestärkt werden. Sie sind das Zentrum der Familien und Ansprechpartnerin für familiäre Belange.
Dies gelingt mit der Nähwerkstatt, wo Frauen zu professionellen Näherinnen ausgebildet werden, häufig ein erster Schritt in ein unabhängiges Leben. „Zurzeit sind sieben Näherinnen angestellt, die ausschließlich Produkte aus recyceltem Material herstellen“, sagt Scholten:
Viele Migrantinnen finden hier ihre erste Arbeitsstelle und auch ihren Weg aus der Isolation und Abhängigkeit.
Christine Scholten, Nachbarinnen
Die Nähwerkstatt bildet auch Praktikantinnen aus: „Wir begleiten oder vermitteln sie in die Arbeitswelt und arbeiten mit dem AMS zusammen.“
Die Finanzierung des Vereins Nachbarinnen erfolgt zur Hälfte aus der öffentlichen Hand und zur Hälfte durch privaten Sponsor:innen.
Um den gesellschaftlichen Mehrwert durch den Verein zu belegen, hat eine Studie der Wirtschaftsuniversität Wien den Social Return on Investment (SROI) für das Jahr 2014 errechnet. Aus der Gegenüberstellung der gesamt Investitionen mit der Summe der Profite ergibt sich der sogenannte SROI-Wert von 4,61. Was bedeutet, dass jeder an die Nachbarinnen gespendete Euro 4,61 Euro an Wertschöpfung für die Gesellschaft erzielt.
Gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken
Nicht immer läuft die Integration ohne Hindernisse ab: „In vielen Familien gibt es Gewalt an den Frauen und Kindern, weitere Probleme sind weibliche Genitalverstümmelung oder auch Extremismus“, erklärt Scholten. Der Verein ist mit Behörden wie der Wiener Magistratsabteilung 11 (MA 11, Kinder- und Jugendhilfe) gut vernetzt. Scholten spricht sich jedoch gegen Vorurteile gegenüber Migrantenfamilien aus: „Gewalt gibt es auch in österreichischen Familien.“
Nach beinahe elf Jahren hat sich der Verein Nachbarinnen in Wien etabliert und in den Communities hoch angesehen, dazu arbeitet er eng mit der Stadt Wien zusammen. Auch Anfragen aus anderen österreichischen Städten hat es bereits gegeben: „In Linz gibt es seit sechs Jahren einen ähnlichen Verein, Salzburg ist ebenfalls interessiert.“
Die Nachbarinnen aus Wien bieten Beratung, jedoch keine Unterstützung bei der Finanzierung. „Österreich kann ohne Zuwanderung nicht überleben“, ist Christine Scholten überzeugt. „Wir müssen Migrant:innen als Bereicherung sehen und aufeinander zugehen. Es geht um gesellschaftlichen Zusammenhalt.“
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Fotos: Nachbarinnen // Hanna Pribitzer
Illustration: Fiona Walatscher
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