Wie Ehrenamt das Zeitkonto füttert

Die Zeit drängt: Die Pflegedebatte in Österreich droht zu verpuffen. Indes werden immer mehr Menschen immer älter. Wer sorgt für sie, wer schenkt ihnen Zeit? Ein Social Business vernetzt Ehrenamtliche und Hilfesuchende. Ein Lokalaugenschein im Salzburger Land.

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KUCHL. Wenn Herbert Kistner spricht, ist die Bewegung seiner Hände kaum sichtbar. Wenn er seine Worte mit Gestik untermalen möchte, spielt sein Körper nicht mit. Dafür hüpft sein linkes Bein in schnellem Takt unter der warmen grauen Fleece-Decke, die auf seinem Schoß liegt. Der 54 Jahre alte Mann sitzt im Rollstuhl. Die Kontrolle über seine Bewegungen hat er nicht. „Die über meine Gedanken allerdings schon“, sagt er entschieden.

Mit ihm am Küchentisch sitzt Reinhard Brüstle. Er ist mit Jahresbeginn in Pension gegangen, nach 38 Jahren als Experte für Pflege im Spital. Und auch wenn die beiden Männer ein komplett unterschiedliches Leben haben, sind sie sich im Wesen ähnlich. Beide sind besonnene Typen. Und sonnige. Denn allzu viel negatives Denken ist beiden fremd. Während Kistner in Kellau bei Kuchl und damit rund 40 Kilometer südlich der Stadt Salzburg lebt, befindet sich Brüstles Zuhause hoch oben in St. Koloman. Eine zehnminütige Autofahrt trennt die beiden. Brüstle (62) nimmt den Weg seit vergangenem Oktober regelmäßig auf sich. Alle zwei, spätestens alle drei Wochen sehen sie sich. Dann wartet Kistner mit einer Liste kleiner Aufträge. Brüstle übernimmt diese gern. Glühbirnen austauschen, Handy und Laptop einrichten, Batterien wechseln. Gerade steht das Auswintern der Gartenpflanzen an. Sie wollen nach draußen. Die Frühlings-Sonnenstrahlen locken.

Social Business soll Druck aus Pflegedebatte nehmen

Warum Reinhard Brüstle, ein gebürtiger Vorarlberger, dem im Rollstuhl sitzenden Herbert Kistner freiwillig und ehrenamtlich zur Hand geht? Weil die beiden Teil des Betreuungs- und Vorsorgenetzwerkes Zeitpolster sind. Die Gemeinwohl-Plattform hat sie zusammengeführt.

Das Prinzip ist schnell erklärt: Menschen, die Zeit haben und geben wollen, helfen anderen bei einfachen Dingen. Für jede Stunde, die sie im Einsatz sind, erhalten sie eine Zeitgutschrift. Die können sie später, wenn sie selbst Hilfe brauchen, einlösen. In Salzburg ist Regionalkoordinatorin Susanne Liedauer für die Vernetzung zuständig. Sie berichtet, was die Tandems unternehmen:

Es geht etwa um Unterstützung beim Einkaufen, Fahrdienste, Freizeitaktivitäten – oder bei Jüngeren auch um Kinderbetreuung.  Am häufigsten werden Botengänge wie Medikamente holen und Fahrdienste zum Arzt oder zur Therapie nachgefragt.

Auch im Haushalt falle einiges an. Doch die wahre Sehnsucht ist nicht mit schweißtreibenden Aktionen verbunden: „Wir merken, dass die Anfragen oft mit dem Wunsch nach einem Gespräch bei Kaffee und Kuchen verbunden sind“, sagt Liedauer und erinnert sich an den Start eines Duos, bei dem die Frage lautete: „Gemma zuerst einkaufen, dann trink ma noch einen Kaffee, passt das?“ Schnell wird klar, das höchste Gut sind auch bei Zeitpolster die Zeit und die persönliche Ansprache. Jemanden zum Reden zu haben also.

Österreich braucht 75.000 neue Pflegekräfte

Indes steckt die Pflege alter und kranker Menschen in Österreich weiter in der Krise. Keine Frage, ohne Expert:innen aus dem Ausland ginge es nicht. Stichwort 24-Stunden-Pflege. Ob durch eine Pflege-Lehre zur Pflege(-fach-)assistenz oder einen Pflege-Bachelor-Studiengang, dringend benötigte Arbeitskraft lässt sich hierzulande nur mühsam begeistern, anwerben, aufbauen. Die Lage? Angespannt. Bis 2030 benötigt Österreich rund 75.000 zusätzliche Pflegekräfte.

Wie es mit den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen aussieht, hat das Gesundheits- und Sozialministerium erheben lassen. Auf der Webseite findet sich eine Studie; durchgeführt hat sie das Institut für Pflegewissenschaft in Kooperation mit dem Institut für Soziologie der Universität Wien. „Angehörigenpflege in Österreich“ ist allerdings nicht mehr aktuell – der Endbericht stammt aus dem Jahr 2018.
Auf Basis dieser Studie ist davon auszugehen, dass „rund 801.000 Personen zu Hause und 146.000 Menschen im Bereich der stationären Langzeitpflege informell in die Pflege und Betreuung einer pflegebedürftigen Person involviert sind“. Dies schließt die Hauptpflegeperson, aber auch Personen aus deren privatem Umfeld, die ebenfalls Verantwortung übernehmen, ein. Diese 947.000 Erwachsenen machen rund zehn Prozent der österreichischen Bevölkerung aus.

Demnach gibt es für Zeitpolster und seine ehrenamtlichen Frauen und Männer jede Menge zu tun. Österreichweit sind derzeit 600 Menschen aktiv. Sie erbringen Leistungen für 400 betreute Personen und haben bisher mehr als 30.000 Stunden für ihre eigene Betreuung zu einem späteren Zeitpunkt angespart. In den Bundesländern wird kräftig auf- und ausgebaut.

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Quelle: Zeitpolster © relevant

Zeitpolster schenkt Quality-Time mit den Kindern

Herbert Kistner hat MS, also Multiple Sklerose. Zu den Symptomen zählen ein Taubheitsgefühl oder Kribbeln in den Beinen oder Armen. Oft stellen sich starke Müdigkeit und rasche Erschöpfung ein. Außerdem klappt das Gehen schlecht, wegen der Gleichgewichtsstörungen. Auch das Sehen kann beeinträchtigt sein. Lähmungserscheinungen treten laut Lehrbuch seltener auf. 

Doch sie sind möglich, wie Kistners Fall zeigt. „Ich bin vor 36 Jahren gesund ins Bett gegangen und halbseitig gelähmt munter geworden“, sagt er und erinnert sich an jenen Tag, der einen tiefen Schnitt in sein bisheriges Leben gemacht hat. Komplett irritiert hat er es damals noch zur Arbeit geschafft. Dann wurde ihm langsam klar, dass etwas Tiefgreifendes nicht stimmt. Bis die Diagnose und damit auch die Klarheit über die Krankheit da war, dauerte es. 

MS verläuft in Schüben, der Zustand verschlechtert sich fortlaufend. Bei dem Kuchler ist in letzter Zeit ein erfreulicher Stillstand zu verzeichnen, wie er mit einem Lächeln erzählt. Er sitzt sicher in seinem Rollstuhl, während Reinhard Brüstle diesen aus der Tür und über eine niedrige Stufe hinunter auf den Parkplatz vor dem Haus schiebt. Die Rampe des umgebauten Autos ist heruntergeklappt. Brüstle schiebt – und schon befindet sich Kistner mit seinem Rolli in dem Wagen. Klappe hoch und es kann losgehen. Zum Einkaufen beispielsweise.

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Zum Einkaufen beispielsweise. „Damit der Herbert das nicht mit seinen Kindern erledigen muss und mit ihnen stattdessen einen schönen Ausflug machen kann“, lautet der Plan. © Michaela Hessenberger

Den Supermarkt sucht das Zeitpolster-Tandem bei beinahe jedem Treffen auf. Alltagsroutinen wie diese übernimmt Brüstle am liebsten. „Damit der Herbert das nicht mit seinen Kindern erledigen muss und mit ihnen stattdessen einen schönen Ausflug machen kann“, lautet der Plan, mit dem er die Familie für schöne Erlebnisse freispielt. Und das setzen alle Beteiligten auch in die Tat um. Kistners Tochter und Sohn wechseln sich mit ihren Besuchen beim Papa ab und haben Freude an der weitgehend „arbeitsfreien Quality-Time“. Enkeltochter Frieda macht dem stolzen Opa besondere Freude. Bilder mit der knapp Dreijährigen stehen am Küchentisch und kleben im dicken Fotoalbum, das er gerne zeigt.

Zeit-Gutschrift als Lohn

Reinhard Brüstle sagt über sich selbst, dass er seine soziale Ader nicht abstreiten kann. 38 Jahre als diplomierter Krankenpfleger sprechen eine deutliche Sprache. Den Zeitpolster-Flyer mit allen Infos hat ihm seine Frau in die Hand gedrückt; sie ist Pflegeberaterin in Salzburg. Herbert Kistner kannte sie schon, bevor ihr Mann ihn getroffen hat – nämlich von der Organisation der Arbeit von Zsuzsa, der 24-Stunden-Pflegerin aus Ungarn, die den Kuchler betreut. Brüstle mag das Unkomplizierte und die Freiheit, die Kistner und Zeitpolster ihm geben.


Das ist das Feine an der Freiwilligenarbeit: Wenn ich etwas zusage, tue ich das aus freien Stücken und entscheide selbst, wie viel Zeit ich investiere, erklärt er. 

Die Betreuungsplattform beschreibt der in St. Koloman lebende Vorarlberger als wachsenden Organismus. In ganz Österreich bilden sich Teams aus Ehrenamtlichen, die sich vernetzen und unterstützen. Haftpflicht- und Unfallversicherung deckt Zeitpolster ab. „Dass ich selbst Zeit ansammle und damit für mich vorsorge, ist ein tolles Goodie“, sagt er.

Herbert Kistner konnte freilich keine Stunden auf seinem Zeitpolster ansammeln. Die Leistungen kann er jedoch zukaufen, um neun Euro die Stunde. Eine zweite Pflegerin, die rund um die Uhr bei ihm ist, könnte er keinesfalls finanzieren und auch die Kinder möchte er nicht dauernd bitten müssen. Deshalb ist Zeitpolster der perfekte Weg, um sein Leben zu organisieren. 

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Quellen: Angehörigenpflege in Österreich, Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, 2018 / Zeitpolster Wirkungsbericht 2021

Ideen in der Pflege sind hoch notwendig

Einen realistischen Blick auf das eigene Älterwerden kombiniert Zeitpolster mit der Balance zwischen Geben und Nehmen. Susanne Liedauer sagt:

Ziel ist es, die Lebensqualität aller Beteiligten und deren Wertschätzung zu erhöhen und die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Gesellschaft zu pflegen und zu fördern. 

Konzipiert ist die Plattform als Verein und als GmbH. Im Verein sind alle Helfenden organisiert und Haftpflicht-, Unfall- und Rechtsschutz-versichert. Der Verein nimmt Spenden an und unterstützt die lokalen Organisationsteams. Da eine gemeinnützige Organisation jedoch nur sehr begrenzt Finanzen aufbauen darf, übernimmt die GmbH die Verwaltung des Notfallkontos. Dort werden 3,72€ pro geleisteter Stunde für die Helfenden zurückgelegt, die abgerufen werden, um Pflegeleistungen zuzukaufen, falls Zeitpolster bei Inanspruchnahme der angesammelten Stunden keine Pflege zur Verfügung stellen kann.
Die Zeitpolster GmbH ist auch Social-Licence-Geber für andere Länder wie aktuell beispielsweise Liechtenstein oder Deutschland. 

Liedauer bringt den Sinn dieses Social Business auf den Punkt: „Wir stellen die Wirkung in den Vordergrund, reinvestieren Gewinne und tragen zur Lösung eines gesellschaftlichen Problems bei.“ Die demografische Entwicklung in Österreich zeigt die Notwendigkeit solcher Ideen.

Sie teilen die Lebenseinstellung

Indes blättern Herbert Kistner und Reinhard Brüstle in einem Buch mit hellblauem Einband. Dass der Kuchler trotz seiner MS erfreulich zuversichtlich sein Leben meistert, beeinflusst den Verlauf der Krankheit positiv – davon sind beide überzeugt. In dem Buch, das Ursachen verschiedener Erkrankungen auf den Grund gehen will, steht klar und deutlich, dass das eigene Mindset einen großen Teil zum Wohlbefinden beitragen kann. Beide Männer nicken.

„Ich habe den Ausdruck ,tragischer Optimismus‘ gelesen“, sagt Brüstle und schiebt Kistner das Buch näher hin. „Der gefällt mir, weil bei allem Negativen immer auch etwas Positives zu entdecken ist.“ Zustimmung folgt. 

Denn genau an dem möchte Herbert Kistner sich so gut wie möglich orientieren, sagt er mit einem Schmunzeln. Und so freut er sich auf den Frühling, der langsam, aber sicher kommt. „Ich will bald aus Scheffau, meinem Heimatort, entlang der blauen Lammer bis hierher nach Hause spazieren“, sagt er. Ob er den Ausflug mit Brüstle oder seinen Kindern unternimmt, ist noch offen. „Hauptsache, ich komme aus dem Haus und sehe Neues“, sagt Kistner mit einem unternehmungslustigen Blick über den Rand seiner Brille.

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„Hauptsache, ich komme aus dem Haus und sehe Neues“, sagt Kistner mit einem unternehmungslustigen Blick über den Rand seiner Brille. © Michaela Hessenberger

2003 Erste Gehversuche, Pilotprojekt im Rahmen des Vereins TALENTE Vorarlberg, großes Lernen, aber kein Erfolg. Wir lernen zu scheitern. Smartphones & Co“ „Zeitpolster“ 
2006 Fachtagung in Vorarlberg mit einem Beitrag einer Trainerin der japanischen Sawajaka Foundation über die Erfahrungen von Zeitgutschriftenmodellen in der Betreuung älterer Menschen in Japan.
2012 Konzept für Zeitvorsorge für das Bundesamt für Sozialversicherungen in der Schweiz, Umsetzung startet in der Stadt St.Gallen.
2016 Start Konzeption Zeitpolster als Soziales Unternehmen in Österreich
2018  Start der Umsetzung in Wien und Vorarlberg
2019  Start Crowdfinanancing Kampagne bei Green Rocket als erstes Impact Investing Österreichs über Crowdfinancing
2020 Die ersten 10.000 Stunden Vorsorge sind angespart 
2020 Erster Social Franchise Partner startet in Liechtenstein
2023 30.000 Stunden Vorsorge sind angespart.


Raus aus der Pflegekrise! In einem Schwerpunkt haben wir uns mit Initiativen beschäftigt, die neue Lösungswege gehen:


Die wichtigen Gesellschaftsthemen sind relevant.


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