Behindert die Wirtschaft sich selbst?

15,6 Millionen Menschen mit Behinderung leben im deutschsprachigen Raum. In Österreich sind es 18 Prozent der Bevölkerung, rund 1,7 Millionen Kundinnen und Kunden bzw. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Trotz zunehmenden Bewusstseins stehen der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und deren Chancen am Arbeitsmarkt noch immer zahlreiche Barrieren im Weg. Wie solche überwunden werden, zeigen vier Initiativen mit Erfolg.

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Nicht jede Behinderung ist auf den ersten Blick zu erkennen – manchmal auch nicht auf den zweiten.

Im Wortlaut der UN-Behindertenrechtskonvention werden Menschen mit Behinderung als solche definiert, die „langfristige, körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“

Nur: Wie ist es um diese „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft“ bestellt, wenn man blind oder sehbehindert hier und heute einkaufen geht oder einen Job sucht?

Barrieren im Kopf?

75% der Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen geben an, dass sie Geschäfte verlassen und Dienstleistungen nicht nutzen, wenn kein Verständnis für Barrierefreiheit gegeben ist. In Großbritannien entspricht dies einem monatlichen Umsatzverlust von 1,8 Billionen Pfund. Barrierefreiheit ist also auch im Interesse der Wirtschaft und gilt angesichts der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung als eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen der nächsten 20 Jahre. 

Bei Barrierefreiheit denken wir sogleich an Türen, Treppen oder Behindertenparkplätze. Doch oft sind es eben kommunikative und informative Hürden, die potenzielle Arbeitgeber verunsichern. Zum Beispiel mangelndes Wissen, welche Hilfsmittel und Fördergelder für behindertengerechte Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Oder die Furcht, dass ein Arbeitgeber einen Menschen mit Behinderung aufgrund des strengen Kündigungsschutzes bei mangelnder Leistung nicht mehr „loswerden“ kann – obwohl der Kündigungsschutz vom Gesetzgeber längst gelockert worden ist. Müssen Menschen mit Behinderung dankbar sein, wenn sie einen Job finden? Könnte mehr Inklusion der Wirtschaft einen Vorteil verschaffen?

Inklusion, die sich auszahlt

Behindertenverbände weisen seit Jahren darauf hin, dass es zur Erreichung einer Gleichstellung von Menschen mit Behinderung noch immer ein langer Weg ist, der auch strukturelles Umdenken erfordert. In der Realität haben es Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt nach wie vor schwer und oft nicht den vollen Zugang zu Produkten und Dienstleistungen. Wie Barrieren überwunden werden, weil sich Inklusion ganz eindeutig lohnt, zeigen vier Initiativen mit Erfolg:

myAbility: Win-win

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Mit dem ersten inklusiven Karriereportal im deutschsprachigen Raum unterstützt myAbility seit vielen Jahren Menschen mit Behinderung bei der Jobsuche, Berufsorientierung und Karriereentwicklung. © Stefan Joham

Mit dem ersten inklusiven Karriereportal im deutschsprachigen Raum unterstützt myAbility seit vielen Jahren Menschen mit Behinderung bei der Jobsuche, Berufsorientierung und Karriereentwicklung. Um Inklusion von Menschen mit Behinderung als Mitarbeiter:innen und Kund:innen zu ermöglichen, berät myAbility Unternehmen dabei, ein erfolgreiches Disability-Management aufzubauen. 

Gregor Demblin, Co-Founder von myAbility meint: „Gerade für den Handel geht es um riesige Zielgruppen, bei denen sich die Frage stellt, ob sie Geschäfte betreten können, die entsprechenden Waren finden, ob sie Onlineshops bedienen und nutzen können, und ob das Personal die Kompetenz hat, auf besondere Bedürfnisse einzugehen, kurz: ob sie hier einkaufen oder nicht. Durch unsere erfolgreiche Zusammenarbeit mit einigen der größten Handelsunternehmen Österreichs wissen wir um die Herausforderungen, vor allem aber auch um die Chancen von Barrierefreiheit für den Handel.“

Unternehmen profitieren von wirtschaftlichen Vorteilen wie Produktivitätssteigerungen und der Erschließung neuer Kundengruppen. Gleichzeitig nehmen sie ihre soziale und gesetzliche Verantwortung wahr.

Der Erfolg von myAbility ist ein gutes Beispiel dafür, wie Businesses mit gesellschaftlicher Wirkung funktionieren können und zeigt deutlich, dass es sich wirtschaftlich lohnt, Inklusion zu realisieren. Denn die 18 Prozent der Bevölkerung, von denen hier die Rede ist, sind nicht nur eine Kund:innengruppe. Sie sind eben auch kompetente Mitarbeiter:innen und super Teamplayer:innen – so ist bei inklusiven Teams oft nicht nur die Zufriedenheit am Arbeitsplatz höher, sondern eben auch die Produktivität. 

Um die bestehenden Chancenungleichheiten zu überwinden, gilt es neben den Barrieren im Kopf, so betont myAbility Gründer Demblin, jedoch nach wie vor auch strukturelle Hürden auszuräumen.  

Gerade für den Handel geht es um riesige Zielgruppen, bei denen sich die Frage stellt, ob sie hier einkaufen oder nicht.

Gregor Demblin

Capito? Verständigung durch Verständlichkeit

Capito  Behinderung Sprachlich
capito vereinfacht kompliziert geschriebene Informationen, übersetzt Texte in zielgruppengerechte Sprachniveaus und gestaltet barrierefreie Layouts. 

60% der von Behörden und Unternehmen herausgegebenen Informationen sind in der Sprachstufe C1 verfasst. Dieser Level wird von 54,3 Prozent der Erwachsenen in Österreich nicht erreicht – das Sprachniveau wird zur Barriere, die ein selbstbestimmtes Leben erschwert. Endlich alles verstehen und mitreden zu können, das ist die Vision von capito für alle Menschen auf dieser Erde. 

Dass ausgerechnet behördliche Informationen oder wichtige Anträge, die oft die Grundlage für den Erhalt von Sozialleistungen sind, in komplexem Beamtendeutsch daherkommen, ist kein unveränderbarer Zustand. capito vereinfacht kompliziert geschriebene Informationen, übersetzt Texte in zielgruppengerechte Sprachniveaus und gestaltet barrierefreie Layouts. 

Die capito-Methode ist vom TÜV zertifiziert. Die Übersetzungen werden von Vertreter:innen der Zielgruppen (z.B. Menschen mit Lernschwierigkeiten) in einem standardisierten Prüfverfahren laufend auf Verständlichkeit überprüft und verbessert. Wozu 500 Mitarbeiter:nnen mit Behinderungen beitragen.

Daneben wird auf das Training von künstlicher Intelligenz für das automatisierte Überprüfen von Informationen auf leichte Verständlichkeit und für automatisiertes Vereinfachen gesetzt. Zu den digitalen Lösungen gehören die seit 2018 verfügbare capito App, mit der Texte in verschiedenen Sprachstufen gelesen werden können. capito digital wiederum ist ein Tool für Leichte Sprache, das beim Vereinfachen von Texten hilft. 

Dass zielgruppenspezifische Kommunikation für Behörden, Unternehmen und nicht zuletzt Medien gleichermaßen von Bedeutung ist, zeigt das Kundenportfolio von capito. Um die angebotenen Produkte und Services flächendeckend anbieten zu können, erobert capito mit seinem Social Franchise Netzwerk seit 2005 den deutschsprachigen Raum. Mit dem Lehrgang für leicht verständliche Sprache und verständliche Information teilt das Expert:innen-Team sein Wissen und setzt sich dafür ein, dass Verständlichkeitsbarrieren abgebaut werden. Ganz einfach. 

Specialisterne: Begabungen nutzen

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Das erklärte Ziel von Specialsisterne ist es, eine Million Jobs weltweit für Menschen im Autismus-Spektrum zu schaffen. © Martin Hofmann

Schon früh erkannte Thorkil Sonne die herausragenden Begabungen seines autistischen Sohnes: die bemerkenswerte Hingabe zum Detail, das Erkennen von Un- bzw. Regelmäßigkeiten, logisches und analytisches Denken, die hohe Toleranz gegenüber wiederkehrenden Routinearbeiten sowie die hohe Konzentrationsfähigkeit. Trotz dieser besonderen Fähigkeiten waren bzw. sind 80 Prozent der Personen im neurodivergenten Spektrum (Autismus, ADHS, ADS, Legasthenie, Dyskalkulie und Dyspraxie), ca. 15 Prozent der Bevölkerung, arbeitslos. 

Mit der Überzeugung, dass Personen in diesem Spektrum besondere Talente haben, die besonders in der IT-Branche eingesetzt werden können, und eine Bereicherung für Unternehmen sind, gründete Sonne Specialisterne. Specialisterne nutzt die Fähigkeiten von neurodivergenten Menschen (mit Autismus, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie oder Dyspraxie) als Wettbewerbsvorteil am Markt. Mit dem Ausbildungsangebot im Bereich Software-Testing, Codieren, AI & Data Science und Qualitätsmanagement öffnet Specialisterne den Zugang zum Arbeitsmarkt. Zum Programm gehört ebenso die gezielte Vermittlung von Arbeitnehmer:innen und das Begleiten der Karrieren mit Coachings. Dazu berät Specialisterne Unternehmen, die Stärken von Personen aus dem Spektrum richtig einzuschätzen und wertvolle Mitarbeiter:innen zu gewinnen.

Inzwischen wirkt Specialisterne international und hat Organisationen in 13 Ländern gegründet. Das erklärte Ziel ist es, eine Million Jobs weltweit für Menschen im Autismus-Spektrum zu schaffen. Seit 2011 nutzt Specialisterne Österreich das bewährte Modell und bringt Menschen mit besonderen Stärken nicht nur in den Beruf, sondern begleitet sie und die Unternehmen bei der gelungenen Inklusion, von der alle Seiten profitieren. 

discovering hands: Vorsorge in besten Händen

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discovering hands nutzt den überlegenen Tastsinn blinder beziehungsweise stark sehbehinderter Frauen und bildet diese zu Medizinisch-Taktilen-Untersucherinnen (MTUs) aus. © Sima Prodinger

Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Wird die Erkrankung früh erkannt, erhöhen sich die Heilungschancen maßgeblich. Mit gutem Grund wird für Vorsorgeuntersuchung und Aufklärung geworben. Neben bildgebenden Verfahren wie Mammographie und Ultraschall sind die taktile Untersuchung der Brust durch eine:n Mediziner:in sowie die regelmäßige Selbstkontrolle weitere wichtige Bausteine in der optimalen Brustkrebsvorsorge.

Ins Leben gerufen vom deutschen Gynäkologen Dr. Frank Hoffmann, werden mit discovering hands für diese wichtige taktile Untersuchung Spezialistinnen ausgebildet. Die Initiative nutzt den überlegenen Tastsinn blinder beziehungsweise stark sehbehinderter Frauen und bildet diese zu Medizinisch-Taktilen-Untersucherinnen (MTUs) aus. 

Neben der Ausbildung ist zum einen ein neues Berufsbild entstanden, das blinde und sehbehinderte Frauen fördert, an der seit 2017 auch in Österreich anerkannten Ausbildung teilzunehmen. Wie eine Studie des Gesundheitsministeriums belegt, ermöglicht der hoch entwickelte Tastsinn der eingesetzten Untersucherinnen in Kombination mit der standardisierten Schulung und Ausbildung, bereits kleinste Gewebeveränderungen zu erkennen. Die neuartige Untersuchungsmethode wird inzwischen in enger Zusammenarbeit mit Mediziner:innen an fünf Standorten angeboten. 

Die Medizinisch-Taktile Untersucherin ist ein neues Berufsbild für sehbehinderte und blinde Frauen, die bei discovering hands nicht nur einer bezahlten Tätigkeit nachgehen können. Vielmehr nehmen sie eine wichtige Aufgabe in der Brustkrebsvorsorge wahr. So scheuen sich nach wie vor viele Frauen, an Vorsorgeuntersuchungen teilzunehmen. Die MTUs helfen hier, eine weitere Barriere zu überwinden. Zusätzlich zu den Untersuchungen bietet discovering hands Workshops und Kurse zur Tastuntersuchung an und leistet wichtige Aufklärungsarbeit: “Vorsorge in besten Händen”.


Mit dem Format „1 Problem 4 Lösungen“ berichten wir gezielt über wirkungsvolle Initiativen, die gesellschaftliche Herausforderungen von unterschiedlichen Seiten bearbeiten und dazu beitragen, die Welt lebenswerter und zukunftsfähiger zu machen. Ganz oft werden dies Social Entrepreneurs sein.


„Social Entrepreneurship versucht, die Potenziale von Menschen für innovative Lösungsansätze zu nutzen, deren Gemeinsamkeit ein unternehmerischer Ansatz ist. Social Entrepreneurship bietet – neben staatlich organisierter Hilfe auf der einen und zivilgesellschaftlichem Engagement auf der anderen Seite – einen dritten Weg zur Lösung gesellschaftlicher Probleme.“

SENA – Social Entrepreneurship Network Austria


Wie eine Initiative die physische und psychische Gesundheit fördert – vor allem bei denen, die es am meisten brauchen, kannst du hier nachlesen.


Die wichtigen Gesellschaftsthemen sind relevant.


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