Inklusive Schule: Wenn alle in der gleichen Klasse sitzen
An Italiens Schulen ist Wirklichkeit, was in Österreich undenkbar scheint. Alle Kinder, ob mehr oder weniger begabt, mit oder ohne Beeinträchtigung, lernen und wachsen miteinander. Wie kann das funktionieren?
Er singt, brüllt, lässt die Sau raus. Und das Publikum steigt drauf ein, grölt mit. Max Silbernagl ist in seinem Element. Mit der von ihm vor fünf Jahren gegründeten Punk-Band „Chaos Junkies“ hat der Südtiroler bisher 32 Konzerte gegeben. Auch in Wien stand er auf der Bühne. Wobei „stehen“, rein technisch gesehen, das falsche Wort ist. Denn Silbernagl, heute 27 Jahre alt, sitzt seit seiner Geburt im Rollstuhl.
Die körperliche Beeinträchtigung, mit der Max Silbernagl lebt, nennt sich spastische Tetraparese. Für seinen Alltag bedeutet das, dass Silbernagl rund um die Uhr auf Unterstützung angewiesen ist, ob bei der Körperpflege oder bei der Zubereitung seines Essens.
Gleichzeitig macht er Dinge, von denen die meisten Menschen nur träumen können. Abgesehen von seiner musikalischen Karriere hat Silbernagl schon zwei Bücher geschrieben, ein drittes steht kurz vor der Veröffentlichung. Es soll ein Kinderbuch werden. Hauptberuflich ist Silbernagl als Journalist tätig. Für die Südtiroler Youth-App schreibt er Beiträge über Themen, die für Menschen mit körperlichen Behinderungen relevant sind. Auch in seiner Familie ist er das Ausnahmekind: Während seine drei Geschwister in der Heimat blieben, zog er als Einziger ins Ausland und lebt heute in Innsbruck.
Von Anfang an mittendrin
Dort treffe ich Max Silbernagl in einem Cafè nahe am Fluss. Als ich ankomme, sitzt er in seinem Rollstuhl bereits an einem der Tische. Er ist allein, ausnahmsweise hat er für heute keine Assistenz organisieren können. Also bittet er mich, ihm beim Ausziehen der Jacke zu helfen.
„Ich habe gelernt, einfach zu fragen, wenn ich etwas brauche“, erzählt Silbernagl. Die Berührungsängste bestünden eher auf der anderen Seite, sagt er. Viele Menschen hätten Angst, im Umgang mit Menschen mit Behinderungen etwas falsch zu machen und blieben deshalb lieber auf Distanz. In Innsbruck noch mehr als in Bozen, hat Silbernagl beobachtet. Überhaupt sehe er auf den Straßen weniger Menschen mit Behinderung als in Italien – und wenn, dann nur in Gruppen unter sich.
Ob das auch am Schulsystem liegt?
In Südtirol lernen alle Kinder vom Kindergarten bis zur Matura in derselben Klasse. Es gibt weder Sonderschulen noch Sonderklassen, die bereits 1977 in ganz Italien per Gesetz abgeschafft wurden. Jedes Kind wird, egal wie stark die Beeinträchtigung ist, inklusiv unterrichtet.
Ich habe gelernt, einfach zu fragen, wenn ich etwas brauche.
Max Silbernagl, Musiker und Autor
Herzstück des Modells ist der individuelle Bildungsplan, der vom Lehrpersonenteam unter Mitwirkung der Betroffenen und Eltern für jedes Kind je nach Beeinträchtigung erstellt wird. Darin einigen sich alle Beteiligten auf konkrete Unterstützungsmaßnahmen für das Kind, die mit der Zeit immer wieder überprüft und neu bewertet werden. Ziel des individuellen Bildungsplans ist nicht nur ein unterstützendes, bedürfnisgerechtes Lernsetting, sondern auch die aktive Teilhabe am Klassengeschehen.
Im Falle von Silbernagl unterstützten ihn eine Integrationslehrperson, die der ganzen Klasse zugewiesen war, und ein Mitarbeiter für Integration, der nur für ihn sorgte und ihn bei Alltagshandlungen unterstützte, beispielsweise beim Gang auf die Toilette oder beim Mitschreiben – „also mit der Logistik“, wie Silbernagl es ausdrückt.
Optionen statt Selektion
Wichtigster Ansprechpartner für Fragen rund um das inklusive Schulmodell in Südtirol ist wohl Hansjörg Unterfrauner, Inspektor für Inklusion an der Deutschen Bildungsdirektion.
„Voraussetzung für das inklusive Modell ist die Einheitsschule, die für viele Kolleginnen und Kollegen aus Österreich und Deutschland nur schwer vorstellbar ist“, sagt Unterfrauner. Statt die Schülerinnen und Schüler nach der vierten Klasse einer Selektion zu unterziehen und so ihre künftigen Lebenswege schon früh vorherzubestimmen, bietet das italienische Schulsystem in der Primarstufe und Sekundarstufe I einen gemeinsamen Unterricht und in der Sekundarstufe II die Möglichkeit, je nach persönlichen Stärken und Interessen zwischen verschiedenen Schultypen zu wählen. Neben den Gymnasien mit naturwissenschaftlicher, humanistischer oder künstlerischer Ausrichtung gibt es die Fachoberschulen, wie die Wirtschaftsfachoberschule oder die Fachoberschule für Bauwesen, und die Berufsschulen.
Zum Zeitpunkt unseres Treffens bereitet sich Unterfrauner gerade auf die Ankunft einer Delegation aus dem österreichischen Bildungsministerium vor. Solche hochrangigen Besuche aus dem Ausland kommen häufig, der Anlass dafür ist fast immer: Inklusion.
Die Kinder lernen in diesem System früh, füreinander Verantwortung zu übernehmen. Sie lernen, dass es normal ist, dass es diese Vielfalt in unserer Gesellschaft gibt.
Hansjörg Unterfrauner, Inspektor für Inklusion an der Deutschen Bildungsdirektion
Unterfrauner, der selbst mehrere Jahre als Integrationslehrperson an einer Mittelschule (Sekundarstufe I) tätig war, klärt die Gäste dann über die Eigenheiten des inklusiven Schulmodells auf. Zwischen den eingespielten Sätzen eines erfahrenen Bildungsbürokraten lässt er noch immer seine Überzeugung erkennen: „Die Kinder lernen in diesem System früh, füreinander Verantwortung zu übernehmen. Sie lernen, dass es normal ist, dass es diese Vielfalt in unserer Gesellschaft gibt.“
Spezialisierte Betreuung oder Soziales Lernen?
Die regelmäßigen Besuche deutscher und österreichischer Bildungspolitiker, die es nun schon seit über 50 Jahren gibt, bringen viele Fragen mit sich, manchmal auch Irritationen, zahlreiche Aha-Momente und fast immer neue Einsichten. Aber ein grundlegender Wandel, eine Abkehr vom gegliederten Schulsystem, von Sonderklassen und Sonderschulen, ist bis heute ausgeblieben.
Das liegt zum einen an den tiefgreifenden Umwälzungen, die ein Übergang zum inklusiven Schulmodell mit sich bringen würde. Die gesamte pädagogische Ausbildung müsste umgepflügt werden, mit umfassenden Inklusionsmodulen für alle Lehrkräfte, wie in Südtirol. Neue Mittelschulen und AHS müssten in ein Einheitsschulsystem überführt werden. Dabei sollen alle Schulgebäude von einem Tag auf den anderen barrierefrei sein. Bei vielen älteren Gebäuden ist dies ein Ding der Unmöglichkeit.
Dass all das in Italien funktioniert hat, liegt vor allem daran, dass die Gesetzesänderung von 1977 praktisch über Nacht kam. „Zuerst war das Gesetz da, der Rest ergab sich später“, erinnert sich Unterfrauner. Plötzlich saßen also die Kinder mit Behinderungen in den Regelklassen. „Erst danach hat man geschaut, die Schulen – architektonisch und didaktisch – an die neue Wirklichkeit anzupassen.“
Zuerst war das Gesetz da, der Rest ergab sich später. Erst danach hat man geschaut, die Schulen – architektonisch und didaktisch – an die neue Wirklichkeit anzupassen.
Hansjörg Unterfrauner, Inspektor für Inklusion an der Deutschen Bildungsdirektion
In Österreich wäre eine so radikale Änderung, von oben angeordnet, sehr unwahrscheinlich. Bei derartigen Entscheidungen sprechen auch Lobbygruppen mit, wie das Lehrpersonal für Sonderpädagogik oder die vielen Eltern- und Betroffenenorganisationen, und viele von ihnen haben gute Gründe, um an den Sonderklassen und Sonderschulen festzuhalten. Doch warum sollten ausgerechnet Eltern und Betroffene Trennung und Ausgrenzung beibehalten wollen?
Das inklusive Schulmodell habe einen entscheidenden Nachteil, räumt Unterfrauner ein. „Das System funktioniert kapillar: An jeder Schule gibt es Integrationslehrpersonen, sie müssen aber oft eine große Bandbreite an Diagnosen abdecken.“ Eine spezialisierte Betreuung sei deshalb in manchen Fällen kaum möglich. So gibt es in Südtirol derzeit faktisch niemanden, der für blinde Schülerinnen und Schüler die Brailleschrift unterrichten kann.
Das System funktioniert kapillar: An jeder Schule gibt es Integrationslehrpersonen, sie müssen aber oft eine große Bandbreite an Diagnosen abdecken.
Hansjörg Unterfrauner, Inspektor für Inklusion an der Deutschen Bildungsdirektion
Während also die Sonderklassen eine spezialisierte Betreuung garantieren, fördern inklusive Regelklassen das soziale Lernen, das konstruktive Miteinander in einer heterogenen Gruppe. Was am Ende Priorität hat, bleibt eine Frage, die je nach individuellen Umständen und Werten sehr unterschiedliche Antworten findet.
Auch für den Sänger und Schriftsteller Max Silbernagl ist das Leben abseits der Behindertenwerkstätten alles andere als einfach. Während unseres Gesprächs schnauft er mehrmals tief durch. „Wenn ich einen Termin habe, so wie heute, kostet mich die Organisation und die Logistik manchmal so viel Energie, dass ich im Augenblick, wo es endlich losgehen soll, schon ganz erschöpft bin“, erzählt Silbernagl. Was ihm in den Gliedmaßen fehle, das müsse er mit dem Kopf kompensieren: organisieren, planen, abwägen.
„Wenn es schwierig wird, watscht es dich immer wieder hinunter, aber so ist es nun mal“, sagt Silbernagl. „Das ist das normale Leben – und ich bin verdammt froh, dass ich es möglichst früh kennengelernt habe.“
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2 Antworten zu „Inklusive Schule: Wenn alle in der gleichen Klasse sitzen“
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wo bleiben denn hier die Verfechter innen der Inklusion in Österreich? es wäre schön gewesen wenn auch die zu Wort gekommen wären. mir ist es hier zu einseitig negativ, was den inklusionsgedanken angeht. sehr schade
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Vielen Dank für das Feedback! Perspektivenvielfalt ist relevant. Wir werden uns diesem Thema sicherlich auch noch stärker aus einem österreichischen Blickwinkel annehmen.
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