Das Buurtzorg-Modell: Die (verhinderte) Revolution in der Pflege

Den Pflegeberuf attraktiv machen und zugleich die Patient:innen in den Mittelpunkt stellen? Innovative Pflegemodelle wie Buurtzorg zeigen, dass das möglich ist. Doch gesetzliche Hürden halten solche Initiativen in Österreich klein.

Buurtzorg

Früher ist Wolfgang Huber Marathons gelaufen, inzwischen geht das nicht mehr. Selbst beim Gehen braucht er immer wieder eine Verschnaufpause. Damit geht es ihm jetzt, wo er 60 Jahre alt ist, aber immer noch deutlich besser, als er es sich vor 30 Jahren ausgemalt hatte. Damals, als er die Diagnose “Multiple Sklerose“ bekam.

Fragt man ihn, woran der positive Verlauf liegt, kommt es wie aus der Pistole geschossen: ein nettes soziales Umfeld, eine ausgewogene Ernährung und ausreichend Bewegung. „Das sind Dinge, die, zumindest in meinem Fall, viel positiver gewirkt haben, als die vielen und oft sogar kontraproduktiven Therapien“, erzählt Huber. Schon am Beispiel seines Bruders und seiner Mutter, die beide ebenfalls an Multipler Sklerose litten, hat Huber erlebt, wie wichtig Selbstbestimmung in der Pflege ist.

Auf diesem Prinzip – Selbstbestimmung für die Pflegebedürftigen, aber auch für die Pflegekräfte – beruht das Buurtzorg-Modell, nach dem Huber heute seinen eigenen ambulanten Pflegedienst CuCo Cura Communitas leitet: ein Unternehmen, das keinen geringeren Anspruch hat, als die Pflege in Österreich zu revolutionieren. In Korneuburg betreuen die drei bis vier Pflegekräfte, die aktuell bei CuCo in der Hauskrankenpflege arbeiten, rund zehn Klient:innen. 

Buurtzorg Cuco Cura Communitas Wolfgang Huber
Wolfgang Huber reiste herum und schaute sich an, auf welchen Gebieten andere Länder schon voraus waren und welche Ideen auch in Österreich Erfolg haben könnten.

Die Pflegekräfte organisieren sich dabei völlig autonom, was im österreichischen Pflegealltag ein absolutes Novum ist: Sie erstellen in Eigenregie Dienstpläne, lösen Konflikte, kümmern sich um die Akquise. Die Methode kommt offenbar gut an: Während andere Organisationen händeringend nach Personal suchen, hat CuCo eine ganze Warteliste mit Pflegekräften, die bald auch so arbeiten möchten – ohne 13-Stunden-Tage, mit fairem Gehalt und flexibler Zeiteinteilung.

Wie funktioniert das Buurtzorg-Modell?

Wolfgang Huber macht sofort klar, dass sich hinter der ernsten Fassade aus randloser Brille und zugeknöpftem Kragen ein Mann mit Humor verbirgt. In Österreich hielten ihn die Leute für besonders innovativ, erzählt er amüsiert, dabei habe er sich nur ein Bonmot von Karl Kraus zu Herzen genommen. „Wenn die Welt untergeht, dann gehe ich nach Wien“, soll der Satiriker einmal gespöttelt haben, „denn dort passiert alles zehn Jahre später.“ Wolfgang Huber hat daraus ein Geschäftsmodell gemacht. Er reiste herum und schaute sich an, auf welchen Gebieten andere Länder schon voraus waren und welche Ideen auch in Österreich Erfolg haben könnten.

Auf diesen Reisen stieß er in den Niederlanden auf Buurtzorg (zu Deutsch: „Nachbarschaftspflege“), ein Modell der ambulanten Pflege, das den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Was auf den ersten Blick banal klingt, ist in der Pflege, die nach hierarchischen und durchbürokratisierten Strukturen funktioniert, ein revolutionärer Ansatz: Anstatt die Pflegekräfte in ein starres Muster aus Dienstzeiten und Regularien zu zwängen, betreuen diese ihre Klient:innen in autark organisierten Pflegeteams. Diese Unabhängigkeit und Flexibilität ermöglicht es den Pflegenden, besser und gezielter auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen einzugehen, sodass die Pflegestunden insgesamt reduziert werden können. Die Schweizer Ökonomin Mascha Madörin kam deshalb zum Schluss, dass das Modell wirtschaftlicher sei als eine Pflege, die nach festen Leistungs- und Zeitbudgetprinzipien organisiert ist.

Melanie Jandl (30) und Romana Nagy (47) arbeiten bei CuCo zusammen im selben Team. In Korneuburg betreuen sie aktuell neun Personen, wobei jeder pflegebedürftigen Person maximal zwei Pfleger:innen zugeteilt sind. So kann zwischen Pflegekraft und Klient:in eine vertrauensvolle Beziehung entstehen – was bei konventionellen Hauspflegediensten, wo oft jeden Tag eine andere Pflegekraft vorbeischaut, unmöglich ist. 

„Wenn sie etwas brauchen, rufen meine Patienten oder ihre Angehörigen direkt bei mir an, anstatt bei irgendeiner Hotline“, erzählt Romana Nagy. Ein weiterer Vorteil des persönlichen Verhältnisses betrifft direkt die Gesundheit der Pflegebedürftigen. „Weil wir sie kennen, merken wir sofort, wenn es einer Klientin oder einem Klienten nicht gut geht“, sagt Romana Nagy. Sie ist, wie ihre Kolleg:innen bis 19 Uhr jederzeit erreichbar, je nach individueller Abmachung manchmal auch später.

Weil wir sie kennen, merken wir sofort, wenn es einer Klientin oder einem Klienten nicht gut geht.

Romana Nagy

Bester Arbeitgeber

Nagy, die bereits 1997 ihr Diplom gemacht hat, wollte mit dem Pflegeberuf eigentlich nichts mehr zu tun haben. Mehrere Jahre hatte sie als Pflegerin in der Chirurgie im stationären Bereich gearbeitet. Pflegeheime „und die Art und Weise, wie man dort Menschen abfertigt“, so sagt sie, waren für sie von Anfang an nicht infrage gekommen. Mit der Zeit aber wurde der Personalmangel immer akuter – und mit ihm die Belastung auf die verbliebenen Pflegekräfte. 

Nagy erinnert sich an Nachtdienste, während denen sie allein für 15 Patient:innen zuständig war – dazu kamen manchmal noch weitere Behandelte, welche die Nacht in den Fluren zubringen mussten. Dass sie für mehrere Kranke zugleich da sein musste, war die Regel, nach einigen Monaten war Nagy ausgelaugt und kündigte. „Ich konnte einfach nicht mehr“, sagt sie heute.

Buurtzorg Romana Nagy
„Wenn sie etwas brauchen, rufen meine Patienten oder ihre Angehörigen direkt bei mir an, anstatt bei irgendeiner Hotline“, erzählt Romana Nagy.

Erst nach einer längeren Pause von über 10 Jahren, in der sie anderen Tätigkeiten nachging, beschloss sie, noch einen Versuch in der Pflege zu wagen. Das war vor drei Jahren, als CuCo gerade in den Startlöchern stand. Eigentlich wollte Nagy, die zuvor immer im stationären Bereich tätig war, nie in die Hauskrankenpflege, aber durch die Bezugspflege von Buurtzorg hatte dieser Job einen ganz anderen Charakter: entspannter, selbstbestimmter, menschlicher. Heute sagt sie: „Ich möchte gar nichts anderes mehr machen.“

Gemeinsam mit ihren Kolleginnen erstellt Romana Nagy ihren Dienstplan, sie springen füreinander ein, wenn jemand gerade nicht kann, besprechen bei einem wöchentlichen Jour Fixe allfällige Probleme oder Konflikte und verteilen Broschüren für die Akquise neuer Klient:innen. 

So fällt das gesamte mittlere Management weg. Diese Zusatzarbeit wird auch entsprechend belohnt. Im Vergleich zu ihrer früheren Stelle in einer Anästhesie-Abteilung im Spital verdient sie heute 700 Euro mehr im Monat, berichtet Melanie Jandl. Auch für sie ist die Arbeit nach dem Buurtzorg-Modell – im Vergleich zu dem Wiener Spital, in dem sie zuvor tätig war – „ein Traum“. Die Begeisterung teilt sie mit zahlreichen anderen Pflegekräften. In den Niederlanden, wo bereits 15.000 Pfleger:innen nach dem Modell arbeiten, wurde Buurtzorg über mehrere Jahre in Folge zum besten Arbeitgeber gewählt.

Für Wolfgang Huber, den Gründer von CuCo, liegen die Gründe für diesen Erfolg auf der Hand:

Hierarchien und standardisierte Strukturen machen dann einen Sinn, wenn es um das Management eines berechenbaren, standardisierbaren Systems geht.

Aber in der Pflege? Dort stehe ständig der Mensch im Mittelpunkt, ein zutiefst komplexes, unberechenbares und nicht-standardisierbares Wesen, das nach entsprechend flexiblen und menschlichen Strukturen verlangt. „Erst wenn man das anerkennt, kann Pflege im Sinne aller Beteiligten funktionieren“, sagt Huber.

Unnötige Hindernisse

Ein derart hoher Grad an Selbständigkeit ist jedoch nicht für alle Angestellten das Richtige. Manche Pflegekräfte bevorzugen klare Anweisungen und fixe Zeiten. Vor allem aber kann es vorkommen, dass die Angestellten die Freiheit, die ihnen gegeben wird, ausnutzen: sie verkürzen Dienstzeiten oder sind nicht erreichbar, wenn sie erreichbar sein sollten. In ihrer dreijährigen Zeit bei CuCo habe sie das bislang nur einmal erlebt, erinnert sich Romana Nagy. Weil man im Team eng zusammenarbeitet, falle ein Mangel an Selbstverantwortung gleich auf.

Die eigentlichen Hindernisse sind in Österreich viel mehr bürokratischer Natur. „Dass wir überhaupt noch existieren, halten viele für ein Wunder“, sagt Huber. Grund dafür ist, dass CuCo, im Gegensatz zu den großen Pflegediensten, wie dem Hilfswerk oder der Volkshilfe, keine Landesförderung bekommt. Und ohne Förderung ist ein Pflegedienst nicht konkurrenzfähig, denn dann müssen die Pflegebedürftigen entweder die gesamten Kosten selbst übernehmen oder der Pflegedienst finanziert sich – so wie CuCo – aufwändig über Sozialinvestoren und Spenden.

Huber kritisiert, dass die Landesförderung nicht ausgeschrieben, sondern einfach direkt an die großen Pflegedienste vergeben wird, während neue, innovative Anbieter ignoriert werden – eine Vorgehensweise, die laut Huber gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt. So wird bewusst an starren Hierarchien und unflexiblen Arbeitsmethoden festgehalten. Und weil österreichische Pflegekräfte selten bereit sind, unter derart prekären Bedingungen zu arbeiten, kann der Personalbedarf nur noch – und das auch sehr dürftig – durch ausländische Pflegekräfte gedeckt werden. Huber fragt deshalb bewusst polemisch:

Was haben unsere Politiker:innen gegen österreichische Pflegekräfte?

Dass Anbieter wie CuCo nicht gefördert werden, geht letztlich auf Kosten der Patient:innen, ist auch Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer überzeugt. Im Gegensatz zu Huber zweifelt er aber, dass das Buurtzorg-Modell sich österreichweit etablieren kann, sobald es nur entsprechend gefördert wird. „Das Problem mit dem österreichischen Gesundheitssystem geht über die Fördermodalitäten weit hinaus“, sagt Pichlbauer. 

Es seien die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die falsch gesetzt sind. Strikte Berufsgrenzen führen beispielsweise dazu, dass eine Betreuung, die Tabletten verabreicht, bereits etwas Illegales macht. Genauso verstößt eine Pflegekraft, die Patient:innen selbständig den Blutdruck misst, gegen Vorgaben, denn das Messen des Blutdrucks ist einem Arzt vorbehalten. Die Folge: Eine flächendeckende Betreuung, die rund um die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen organisiert ist, wird unmöglich.

Sobald ein Anbieter wie CuCo in Österreich größer wird, beginnt er, mit diesem System anzuecken.

Das Nachsehen haben ältere und chronisch erkrankte Patient:innen. Anstatt einer ganzheitlichen Versorgung bekommen sie nur eine punktuelle, fragmentierte Behandlung, und das in der Regel nur in Akutsituationen. 

Pichlbauer zieht den Vergleich zu den Niederlanden, dem Land, wo heute mehr als die Hälfte der Bezirkspflegekräfte nach dem Buurtzorg-Modell arbeiten. Die dortigen Spitäler verzeichnen nur die Hälfte der Aufnahmen Österreichs. Auch die Pflegequote, also der Anteil der Bevölkerung, die Pflegegeld bezieht, sei in Österreich mit 5,3 Prozent (Stand 2019) höher als in den allermeisten EU-Ländern.

Wir haben in Österreich ein Gesundheitssystem, das nicht dafür sorgt, dass die Menschen gesund bleiben, sondern es erzeugt endlos viel Krankheit, sagt Pichlbauer.

Innovative Modelle, die den Pflegenotstand beheben können, existierten schon längst. Es müssten nur endlich gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die solche Initiativen zulassen.


Mehr Infos über Buurtzorg und zur Webseite von CuCo.

Weiterlesen? Im Artikel „Wie Ehrenamt das Zeitkonto füttert“ erfährst du, wie Zeitpolster den Pflegekräftemangel bekämpft.


Grafik: Fiona Walatscher


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