Tiktok-Video statt Frontalunterricht

Ein deutsches Bildungs-Start-up will die Begeisterung von Kindern für Social Media zu einer Bildungsressource machen – und lässt sie im Unterricht Tiktok-Videos zu Lerninhalten drehen. Die Idee dahinter: Die Kinder sollen lernen, Medien nicht nur zu konsumieren, sondern auch zu gestalten.

So viel Stoff, so wenig Zeit. Flora und Sophia sehen keinen Ausweg. Sie müssen die Klausur bestehen, müssen die Schule abschließen, müssen einen Notenschnitt bekommen, mit dem sie später auf einen guten Studienplatz hoffen können. Immer nur müssen, müssen, müssen. „Machen wir eine kleine Pause“, schlägt Sophia vor. Danach wird fleißig weitergebüffelt. 

Ihre Freundinnen Mimi und Lara machen es anders. Sie stellen fest, sie haben keine Schulpflicht mehr, sie sind frei. „Hören wir einfach ganz auf, fahren wir irgendwo anders hin“, schlägt Mimi vor. „Niemand zwingt uns hier zu sein“, sagt auch Lara. Sie stehen auf und gehen, ohne Absicht, an ihren Schreibtisch zurück. 

So endet das Kurzvideo, das vier Schülerinnen der Klasse 7BC am Bundesgymnasium Bachgasse in Mödling bei Wien gedreht haben. Es zeigt zwei radikal unterschiedliche Wege, mit Freiheit umzugehen: Determinismus und Indeterminismus. Während Flora und Sophia ihren Lebensweg als gegeben sehen und sich dem vorherbestimmten Lauf der Dinge fügen, stellen Mimi und Lara alles infrage und gehen einen Weg, der mit den Erwartungen ihres Umfelds bricht. 

Es sind große existenzielle Themen, die die Schülerinnen und Schüler der Klasse 7BC am Bundesgymnasium Bachgasse in Mödling zu Kurzvideos verarbeitet haben: neben Freiheit auch Tod, Wahrheit und Glück. Als erste Klasse haben sie das Projekt „DigitalSchoolStory“ (DSS) an einer österreichischen Schule durchgeführt.

Von Tik-Tok Konsument:innen zu Macher:innen

DSS ist ein gemeinnütziges Start-up – und bringt in Deutschland mit seiner innovativen Methode schon seit 2021 frischen Wind in die Schulen. Die Idee dahinter ist so einfach wie auch wirksam. Die Schülerinnen und Schüler verpacken einen beliebigen Lehrstoff in eine Geschichte und machen ein 90-Sekunden-Reel daraus, also einen kurzen Video-Clip im Tiktok-Format. Am Gymnasium Bachgasse in Mödling waren es Begriffe aus dem Wahlpflichtfach Psychologie und Philosophie. Die Methode kann aber genauso gut in Mathematik, Naturkunde, Deutsch oder Geschichte eingesetzt werden. 

Insgesamt 18 Stunden dauert das Projekt, am Ende kommt das Highlight. Ein professioneller Influencer schaut sich die Videos an und gibt den Schülerinnen und Schülern Feedback. Auf Social Media werden die Videos aber nur selten veröffentlicht – im Vordergrund steht der Gedanke, dass man sich in einem sicheren Rahmen ganz frei und ohne Druck ausprobieren kann. 

Das Ziel der DSS-Methode: Aus reinen Konsument:innen sollen in der Schule Macherinnen und Macher werden, oder wie es in der Szene richtig heißt: Creators. So wird aus der Begeisterung der Kinder und Jugendlichen für soziale Medien und ihre Lieblings-Influencer im besten Fall kein Problem, sondern eine Bildungsressource.

Die Exotik digitaler Medien

Eigentlich ist das Format der Kurz-Videos, der sogenannten Reels, hoch umstritten. Studien haben gezeigt, dass die schnelle Abfolge der kurzen Clips die Aufmerksamkeitsspanne der Jugendlichen verkürzt, außerdem seien die Inhalte oft trivial und kognitiv anspruchslos, manchmal sogar desinformativ und verhetzend. Zudem entwickle der endlose Video-Feed eine ungeheure Sogwirkung und könne süchtig machen. 

Helga Göbharter unterrichtet an der Bachgasse Philosophie, Psychologie und Geschichte. Sie beobachtet schon seit Jahren, dass ihre Schülerinnen und Schüler oft geistesabwesend sind, viel zu oft aufs Handy schauen. Das eigene Bild in den sozialen Medien zu pflegen, erzeugt Stress – und lenkt eben auch von der Schule ab. Am größten sei das Problem in der Unterstufe. Dort seien Smartphones verboten und müssten ausgeschaltet in den Schultaschen verstaut bleiben, erzählt Göbharter. Aber löst man ein Problem, indem man es einfach aussperrt?

Als Göbharter zwischen 2019 und 2023 eine Weiterbildung in Logotherapie am Viktor-Frankl-Zentrum machte, hörte sie von einer Kollegin das erste Mal von DSS. Ihr gefiel die Idee, die Begeisterung der Kinder für soziale Medien konstruktiv einzusetzen: das Problem zur Lösung zu machen.

Es hatte für mich außerdem etwas Modernes, das die Schülerinnen und Schüler in ihrer Lebenswelt abholt.

Helga Göbharter, Lehrerin am BG Bachgasse in Mödling

Dass das Konzept funktioniert, ist inzwischen auch wissenschaftlich erwiesen. Ein Jahr lang hat das Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik, eines der namhaftesten deutschen Forschungsinstitute, das Projekt an Schulen wissenschaftlich begleitet. Die Wirksamkeit wurde anhand von Fragebögen an die Schülerschaft und die Lehrkräfte gemessen. Die Ergebnisse der Studie sind vielversprechend. Die DSS-Methode stärke messbar die vier Kernkompetenzen des 21. Jahrhunderts: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken. Darüber hinaus fördere DSS die Medienkompetenz der Kinder- die Fähigkeit, mit digitalen Medien nicht nur technisch versiert, sondern auch verantwortungsbewusst umzugehen. 

Der entscheidende Schritt ist, dass die Kinder und Jugendlichen von Konsumenten zu aktiven Produzenten werden.

Nina Mülhens, Mitgründerin und Geschäftsführerin von DSS

Erklärt Nina Mülhens, die Mitgründerin und Geschäftsführerin von DSS, das Konzept. Sie hat selbst ein Kind im Kindergartenalter und ist besorgt, wenn sie sieht, in welch starren Strukturen das Schulsystem häufig noch verharrt, während die Welt draußen sich rasant verändert. Wenn digitale Medien in der Schule zum Einsatz kommen, dann oft noch, um sich berieseln zu lassen. Mülhens nennt es „Fernsehmentalität“. Es komme aber darauf an, die Medien aktiv als Werkzeuge zu nutzen. Letztlich, sagt Mülhens, gehe es darum, das ganze Bildungssystem zu revolutionieren.

Feedback vom Tiktok-Star 

Trotz ihres Interesses, gibt Helga Göbharter zu, war sie anfangs noch skeptisch. Sie ist 54 Jahre alt, mit Tiktok hat sie eigentlich gar nichts am Hut.

Ich dachte mir: Wie soll das gehen, wenn ich mich mit dem Zusammenschneiden von Videos, mit Untertitelung und solchen Dingen gar nicht auskenne?

Helga Göbharter, Lehrerin am BG Bachgasse, Mödling

Ein Handicap während des Projekts war das am Ende aber nicht. Göbharter bekam von DSS ein ausführliches Onboarding-Gespräch, Unterrichtsmaterialien und eine unterstützende Ansprechperson bei der Implementierung des Projekts. Das alles läuft im Hintergrund, in die Klasse kommen die Mitarbeitenden von DSS nie. Viel habe sie auch von ihren Schülerinnen und Schülern gelernt, sagt Göbharter. Und das war wiederum für die Schülerinnen und Schüler eine zusätzliche Motivation: zu erkennen, dass sie ein Expertenwissen mitbringen, das sie sogar der Lehrkraft voraus haben und in der Schule gezielt einsetzen können.

Ob die Videos auch ästhetisch gelungen sind, entscheidet am Ende ein professioneller Influencer. In der Bachgasse schaltete sich „Papa Basti“, selbst Grundschullehrer und Vater, per Zoom zu. Allein auf TikTok versorgt er 1,4 Millionen Follower mit Kurzvideos, die er gemeinsam mit seiner 11-jährigen Tochter Jule dreht. Wie alle anderen Creators, geht “Papa Basti” ehrenamtlich für DSS in die Schulklassen.

Die größte Herausforderung für die Kinder und Jugendlichen – das erleben DSS-Influencer wie “Papa Basti” immer wieder – besteht nicht in der Technik, sondern darin, einen abstrakten Schulstoff in eine Situation aus dem echten Leben zu übertragen – und diese in nur 90 Sekunden zu erzählen. Nicht allen gelingt das so gut wie Flora, Sophia, Mimi und Lara mit ihrem „Freiheit“- Video.

Statt einer Story sehe man dann oft reine Erklärvideos, in denen die Schülerinnen und Schüler die Rolle der Lehrperson einnehmen, erzählt Nina Mülhens, die Initiatorin von DSS. Sie glaubt nicht, dass das an einem Fantasie-Mangel der Kinder liegt. Vielmehr würden sie das Schulsystem reproduzieren, in dem sie aufgewachsen sind. Und da werde Wissen eben viel zu oft als Selbstzweck vermittelt, ohne ersichtlichen Bezug zum Leben draußen.

Ob die Videos auch ästhetisch gelungen sind, entscheidet am Ende ein professioneller Influencer. (c) Carl-Schurz-Schule

Zwischen Gemeinnützigkeit und Rentabilität

Bei DSS ist das radikal anders. Später, wenn die Kinder ein paar Jahre älter sind und sich auf dem Markt für ihren ersten Job bewerben, werde es viele Unternehmen geben, die ein Bewerbungsvideo verlangen, sagt Mülhens. Wer dann schon weiß, wie das geht – drehen, schneiden, vor der Kamera sprechen, sich eine Position zu eigen machen und sie attraktiv präsentieren, eine Rolle einnehmen – sei klar im Vorteil.

Nach der Logik des freien Marktes funktioniert auch DSS selbst. Das gemeinnützige Start-up bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Gemeinwohl und Wirtschaftlichkeit. Das Ziel ist zwar, die DSS-Methode an die Schulen zu bringen und dadurch das gesamte Bildungssystem ein Stück nach vorne zu bringen, andererseits müssen Nina Mülhens und ihr Team ihre Arbeit irgendwie finanzieren – und tun dies durch eine Gebühr. 

890 Euro kostet es eine Schule, DSS an einer Klasse durchzuführen. Im Fall des Gymnasiums Bachgasse haben der Elternverein, die Schule und das Kino Baden die Gebühr übernommen. Außerdem gab es einen Startrabatt, weil das Gymnasium als erste Schule die Methode nach Österreich geholt hat. In anderen Fällen übernehmen auch Unternehmen aus der Region oder Fördervereine der Schule die Gebühr. Für viele Schulen bleibt die anfängliche Gebühr dennoch eine Hürde, das Projekt überhaupt an die Schule zu holen. 

Maximal drei Mal will DSS mit derselben Lehrperson arbeiten. Gegen eine Art Lizenzgebühr kann die Schule danach auch weiterhin mit DSS-Materialien arbeiten oder sich bei Fragen an das Team wenden. Den Lehrkräften steht es aber auch frei, die Methode völlig eigenständig weiterzuführen. Hauptsache, der grundlegende Gedanke – Kinder nicht nur zum Medienkonsum, sondern auch zur Mediengestaltung zu erziehen – kommt in den Schulen an.

Auch Helga Göbharter hat vor, die Methode in ihrem Unterricht wieder anzuwenden. Empfehlen wird sie sie aber vor allem den Kollegen aus den MINT-Fächern in der Unterstufe. Zum einen, weil dort der Bezug zur Lebenswelt der Schülerschaft noch obsoleter ist als im Fach Philosophie – ein Manko, das DSS wirksam beheben kann. Zum anderen, weil der Wow-Effekt, TikTok-Videos für die Schule zu drehen und dann auch noch von einer Internet-Berühmtheit Feedback zu bekommen, in der Unterstufe zweifellos am größten ist.

Links

Collage Titelbild: Fiona Walatscher


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Die wichtigen Gesellschaftsthemen sind relevant.


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